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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

gewöhnt hatte. Dann steigerte sie die Schnelligkeit und zuletzt setzte sie ihre ganze Kraft ein und jagte mit Windeseile durch die lautlose Nacht. Mit der Zeit beruhigte die kalte Luft ihre Nerven, kühn uberwand sie die Hindernisse. plötzlich sah sie einen weiten Spalt vor sich und ein jähes Erschrecken zuckte durch ihre Glieder. Aber mit Blitzesschnelle schoß auch der Gedanke durch ihr Hirn: zu spät zum Anhalten, also weiter! und mit einem mächtigen Satze flog sie über die Kluft und jagte weiter. An manchen Stellen weckte ihr Fuß ein hohltönendes Rollen unter der Eisfläche, das sich unheimlich bis zur offenen See fortpflanzte. Einmal stieß sie mit dem Schlittschuh gegen eine auf der Eisdecke gelagerte Scholle, und da sie sich in vollem Laufe befand, wurde sie mit Wucht zu Boden geschleudert und schlug sich im Sturze Hände und Knie blutig; sie achtete nicht des Schmerzes, sprang auf und raste weiter durch die Nacht. Endlich erreichte sie das jenseitige Ufer von Groß-Küstrow; eben tönten von der Kirchuhr zwölf dumpfe Schläge herab.

Beim Eintritt ins Dorf bemerkte sie noch einen Lichtschimmer im Hause des Krugwirths. Dieser wollte eben seine Thür verschließen, als ein starkes Klopfen ihn veranlaßte, auf die Schwelle zu treten. Er erschrak beim Anblick der einsamen Frau und rief stotternd: „Jungfru Monk? Is denn dat die Menschenmöglichkeit! Sie sind äwer die Bucht loopen bei die grimmige Kälte?“

Nachdem sich der biedere Alte von seinem Erstaunen erholt und den Zweck der nächtlichen Reise erfahren hatte, weckte er dienstfertig seinen ältesten Sohn und hieß ihn rasch den Gaul vor den Schlitten spannen. Nach kurzer Rast konnte Bettina ihre Fahrt fortsetzen. Sie langte – viel zu spät für ihre Ungeduld – zwei Stunden später vor dem Hause des Arztes an. Es dauerte eine Weile, bis der im besten Schlafe befindliche alte Herr sich aufgerafft und zu der Nachtfahrt gerüstet hatte. Kaum hatte der Schlitten auf der Rückfahrt Groß-Küstrow erreicht, so wollte Bettina, um einen Vorsprung zu gewinnen, von neuem den Eislauf über die Bucht wagen, der Arzt aber hielt sie im Schlitten fest. „Danken Sie Ihrem Schöpfer, daß die Tollkühnheit einmal gut vorüber gegangen ist,“ sagte er. „Ueberdies muß ich doch selbst erst da sein, ehe Sie etwas Ernstliches unternehmen konnen, um die Leiden des Kindes zu erleichtern. Seien Sie also geduldig!“

Bettina rang nervös die Hände, aber sie fügte sich. Sie meinte vor Angst vergehen zu müssen – mit peinigender Langsamkeit kamen sie vorwärts. Durch Geldversprechungen feuerte sie den Fuhrmann an, die Kräfte des schwerfälligen Gaules mehr anzuspornen, allein das Thier war nicht aus seinem bequemen Trott herauszubringen, und erst beim Morgengrauen langte der Schlitten vor der Klause an.

Bettina lief dem Arzte voraus ins Haus. Sie erwartete, Ewald am Bette des Kindes zu finden, der aber schlief. Er war, wie die Amme erzählte, um zwei Uhr des Nachts heimgekehrt und hatte sich, wahrscheinlich weil er jede Störung vermeiden wollte, ohne weiteres zu Bett gelegt. Die junge Mutter preßte die Hand gegen die Brust, denn während die Amme ihr berichtete, hatte sie mit der flackernden Kerze ihrem Kinde ins Gesicht geleuchtet, und das Herz wollte ihr fast brechen beim Anblick der verzerrten Züge. Die Kleine hatte sich schrecklich verändert und lag völlig theilnahmlos da.

Der Arzt, welcher unterdessen ans Bett getreten war, erkannte bald, daß er zu spät gekommen sei, um zu helfen.

Die Mutter las auf seinem Gesicht, wie es um die Kleine stehe, sie stieß einen wilden Schrei aus und warf sich dann bitter schluchzend über ihren Liebling.

Und dieser Aufschrei der Verzweifelnden rüttelte noch einmal die Lebensgeister des Kindes auf. Es öffnete mühsam die Augen, starrte in das thränenüberströmte Gesicht Bettinas und sprach mit zitternder Stimme das einzige Wort aus, das es in seinem kurzen Dasein gelernt hatte: „Mama.“

Als Ewald, durch den Aufschrei seiner Frau aus dem Schlafe geschreckt, einige Minuten später die Krankenstube betrat und in verschlafenem Tone fragte, ob denn bei der Kleinen noch immer keine Besserung eingetreten sei, erhob sich Bettina, trocknete ihre Thränen und gab die schroffe Antwort: „O doch, sie ist genesen – genesen von den Schmerzen des Lebens. Wir haben unser Kind verloren; das bedeutet wenig für Dich – für mich alles.“




13.

Es schien, als habe das kleine Wesen bei seinem Scheiden den letzten Schimmer von Freude und Hoffnung aus der Klause fortgetragen. Bettina versank in eine trostlose Gleichgültigkeit und beachtete kaum, was um sie her geschah. Ewald hatte vergeblich den Versuch gemacht, sie zu versöhnen und zu trösten. Bei Tisch saßen sich die Gatten kalt und stumm gegenüber, und Bettinas bleiches Gesicht, ihre traurigen Blicke wirkten so bedrückend auf den Lotsen, daß er fast nur zu den Mahlzeiten in der Klause erschien und während der übrigen Zeit im Wirthshaus bei den Karten Zerstreuung suchte. Dieses Leben blieb nicht ohne schwere Folgen. Von Jugend auf hatte er zur Unmäßigkeit im Trinken Neigung verspürt; heim Kartenspiel gewöhnte er sich bald, große Mengen von Bier und Branntwein zu genießen. Allmählich wurde seine Gestalt voller und schwerfälliger, sein Gesicht aufgedunsen. Er vernachlässigte seinen Dienst in so gröblicher Weise, daß er sich wiederholt scharfe Rügen zuzog. Da er zu wenig Einsicht besaß, um die Berechtigung des Tadels anzuerkennen, so erwachte sein Trotz, und er forderte seine Entlassung. Diese erhielt er im Frühjahr, und nun faßte er den Plan, sich ein eigenes Fahrzeug zu kaufen, um Frachten zu übernehmen oder Fischhandel zu treiben. Er fand auch bald eine schwedische Barke, welche gerade zu verkaufen war. Als er Bettina seine Absichten mittheilte und zum Ankauf der Barke sechstausend Mark von ihr verlangte, seufzte sie schwer auf und vertiefte sich, zum ersten Male seit dem Tode ihres Kindes, in ihr Wirthschaftsbuch. Sie rechnete eine Weile und kam zu der niederschlagenden Erkenntniß, daß ihr Barvermogen fast auf die Hälfte herabgeschmolzen war. Aus den Eintragungen ersah sie, daß zwar durch ihre und des Kindes Krankheit größere Summen nöthig geworden waren, allein trotzdem fehlten mehrere hundert Mark, über deren Verbleib sie sich keine Rechenschaft zu geben vermochte. Sie ahnte, daß Ewald das Geld im Gasthaus und in der Hafenstadt vergeudet hatte, aber sie war großmüthig genug, ihm keinen Vorwurf zu machen; sie legte das Buch ruhig fort und sagte kurz: „Wir müssen unser Leben ändern, wenn wir nicht verarmen wollen.“

Ewald, der dem Tage mit Grauen entgegengesehen hatte, war seelenfroh, ohne Vorwurf und Zank davongekommen zu sein, und gelobte, all seine Kräfte aufbieten zu wollen, um das Verlorene wieder einzubringen. Er wurde ganz beredt und malte eine rosige Zukunft aus, sah die Barke schon den Mittelpunkt einer kleinen Handelsflotte bilden. Bettina theilte seine Hoffnungen keineswegs, dennoch that sie ihm den Willen; sie war müde und das Geld schien ihr nicht der Mühe werth, um deshalb einen Streit mit ihrem Manne auszukämpfen. Mochte er thun, was ihm gut dünkte! Nur die Bitte fügte sie noch hinzu, er möge die Barke gleich nach dem Ankauf gegen See- und Feuersgefahr versichern lassen. Ewald versprach es in freudiger Erregung und begab sich sofort nach der Hafenstadt, weil er bei der Eröffnung der Schiffahrt gleich eine Ladung zu erhalten hoffte. Als jedoch der Schiffskauf abgeschlossen war, entdeckte er bedenkliche Schäden an der Barke, und diese mußte erst zur Ausbesserung auf die Werfte gebracht werden. Bis zur Vollendung der nothwendigen Arbeiten konnten Wochen vergehen, denn die Docks waren überfüllt. Ewald trieb sich einige Zeit in den Hafenkneipen herum, dann, als seine Barschaft zusammenschmolz, kehrte er nach Massow zurück in der Absicht, seine Börse wieder zu füllen.

Während seiner Abwesenheit hatte Bettina die Tage in jener stumpfen Unthätigkeit verbracht, wie sie Schiffbrüchige ergreift, wenn die Wogen langsam das Wrack unter ihren Füßen zertrümmern. Sie hatte versucht, durch Gartenarbeit ihrer verzweifelten Stimmung Herr zu werden, es gelang ihr nicht. Ihre Willenskraft war gebrochen. Sie that nur, was gerade nöthig war, um einer Verwilderung der Anlagen vorzubeugen, aber sie erweiterte dieselben nicht, wie sie sich vorgesetzt hatte. Das Knospen und Blühen in der Natur freute sie so wenig wie der warme Schein der Frühlingssonne; nur das Grab ihres Kindes überdeckte sie mit einem duftigen Blumenflor.

Eines Abends war sie in den Vorgarten getreten, um den Rasen zu begießen; da sah sie Ewald an der Hecke des Bräuningschen Hofes stehen und vertraulich mit Kathrein schäkern. Er hatte die Jacke über die Schulter gehängt und die Mütze in den Nacken geschoben. Allem Anschein nach befand er sich in sehr lustiger

Stimmung, denn die Dirne lachte aus vollem Halse und rief

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_170.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2020)