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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Am Scheideweg.

Ein Wort zum Kampf um die Volksschule.


Eine tiefe Bewegung geht durch das deutsche Volk, in Schlesien wie am Rhein, von der Ostsee bis herab zum Süden wird in mächtigen Versammlungen das Bewußtsein kund, daß der Entwurf zu einem neuen Volksschulgesetz, den der preußische Kultusminister beim Landtag eingebracht hat, nicht Gesetz werden dürfe, daß es sich beim Widerstand gegen diese Vorlage nicht um die verletzten Grundsätze einer politischen Partei, auch nicht bloß um eine innere Angelegenheit Preußens handle, daß hier vielmehr das höchste Gut der Freiheit, die Freiheit des Gewissens und der eigenen Ueberzeugung in dem führenden Staate Deutschländs bedroht und damit das ganze Vaterland vor eine dringende Gefahr gestellt sei. Wenige Wochen haben genügt, um diese Bewegung überall hinzutragen, wo man nicht schmälern lassen will, was die letzten vier Jahrhunderte an Freiheit des Denkens gebracht haben, wo man fühlt, mit einer freien Entwicklung der Volksschule hänge der freie Gang des Volkslebens durch tausend Fäden zusammen und das Volk sei es, welches seine Schule schützen, ihr, die vom Volke den Namen trägt, auch den Geist des deutschen Volkes, den Geist der Duldung retten müsse. Allenthalben kommt man zu der Gewißheit, daß man an einem Scheidewege stehe. Hat doch der Urheber des Entwurfes selbst in den Kammerverhandlungen es ausgesprochen, daß sich in diesem Gesetz die Geister scheiden werden, und der Reichskanzler hat das näher erläutert durch das verhängnißvolle Wort: es gelte den Kampf zwischen der Religion und dem Atheismus; damit sind die Gegner des Entwurfs einer gottlosen Weltanschauung beschuldigt. Ueber die Berechtigung eines solchen Vorwurfs zu streiten, dazu ist hier nicht der Ort. Nur das sei angeführt, was Lessing, der Mann der stolzen Wahrheit, einem seiner Gegner antwortete, der ihn mit eben jenem Vorwurf bedachte. „Sagen Sie selbst,“ ruft er voll Entrüstung diesem zu, „wissen Sie infamierendere Beschuldigungen als diese? Wissen Sie Beschuldigungen, die unmittelbarer Haß und Verfolgung nach sich ziehen?“

Und an einen bekannten Vorgang der Geschichte sei erinnert – wohl liegt er um Jahrtausende zurück, aber die Parallele zu dem Worte vom Atheismus trifft darum nicht weniger zu. Als Sokrates in Athen die Jugend um sich sammelte und sie zur Selbsterkenntniß, zum eigenen Denken, zur freien Ueberzeugung anleiten wollte, da stellte man ihn unter die Anklage des Atheismus und gab ihm den Giftbecher zu trinken. Und heute müssen diejenigen, welche die Volksschule nicht binden, der Jugend und ihren Lehrern den Weg zum selbständigen Denken nicht verlegen lassen wollen, Atheisten sein! Freilich, man kann sie nicht vor Gericht stellen und einen Giftbecher giebt man ihnen auch nicht zu trinken. Aber vergiftende Schlagworte fallen und – ja doch, auch mit dem Gericht bleibt der neue Gesetzentwurf in solchen Dingen gar nicht so ferne. Nach ihm sollen Dissidenten, Eltern, die einer staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft nicht angehören, in Zukunft von der Behörde gezwungen werden können, ihre Kinder dem Religionsunterricht irgend einer Konfession zu überantworten, deren Lehre ihrer eigenen Ueberzeugung widerstreitet – ist das nicht gerichtlicher Gewissenszwang? Lehrer, deren Religionsunterricht nicht ganz dem kirchlichen Ermessen entspricht, die in ihrem Gewissen sich gebunden fühlen, nicht gegen besseres Wissen übertriebene Zumuthungen des Dogmas und kirchlich-politischer Anschauungen schon den Kindern eiuzupslanzen – sie sollen auf Antrag der Kirchenbehördeu von der Ertheilung des Religionsunterrichts ausgeschlossen und dadurch in der Gemeinde, in der sie wirken, in ihrem Amte unmöglich gemacht werden können. Sind die Lehrer auf diese Weise nicht der Willkür preisgegeben, wird es nicht fast immer gelingen, durch Bemängelung des Religionsunterrichts den Lehrer zu schädigen, der sich nur aus politischen oder persönlichen Gründen mißliebig gemacht hat? Werden nicht Aeußerungen, welche die Schulkinder als angeblich vom Lehrer herrührend aus dem Religionsunterricht mit heimbringen, zu Anklagen benutzt und wird nicht dadurch das Denunzieren unter den Schulkindern gezüchtet, ihr Vertrauen zum Lehrer erschüttert oder vernichtet werden? Kurz, die Lehrer sind vor die Wahl gestellt, im gegebenen Falle entweder ihre Existenz preiszugeben oder zu heucheln – ist das nicht ebenfalls eine Form des Gewissenszwangs und zwar von der nachtheiligsten Art? Denn sie muß gerade die selbständigen und kraftvollen Charaktere, also die Besten aus dem Lehrerstande entfernen!

Wen kann es da Wunder nehmen, daß die Bewegung gegen das Gesetz immer weiter um sich greift, Männer aller Parteien umfaßt? Sollen wir still dabeistehen und zusehen, wie man die Volksschulbildung von jetzt an mit Vorbedacht in eine evangelische und katholische auseinanderlegen und damit ihre Einheit zerreißen will; soll wirklich in erster Linie die deutsche Geschichte nur nach konfessionellen Gesichtspunkten gelehrt und dadurch das Bewußtsein geistiger Einheit der Nation, das in einer unparteiischen Geschichtsbetrachtung lebt und durch sie lebendig wird, unterbunden werden. Soll am Ende schon die Unbefangenheit der Jugend durch jene Gegensätze des kirchlichen Lebens vernichtet werden, die für den Erwachsenen noch immer viel zu früh kommen? Sollen etwa unsere Schuljungen in Zukunft, statt sich als „Franzosen“ und „Deutsche“ zu bekämpfen, unter der Parole „evangelisch“ und „katholisch“ ihre Schlachten schlagen? Da muß sich doch regen, wer immer über alle Meinungsunterschiede im einzelnen hinweg das große Ganze im Auge hat, wer die größten Güter des Volks nicht gefährden will in einer Zeit, welche welterschütternde Ereignisse, Kämpfe von unübersehbarer Gewalt vorzubereiten scheint, wo nicht ernst genug alles vermieden werden kann, was geeignet ist, die geistige Kraft unseres Volkes, den inneren Frieden dauernd zu stören!

Warum denn überhaupt diese Gesetzesvorlage? Ist denn das Bestehende auch dann werth, daß es zu Grunde gehe, wenn es seinen Dienst erfüllt, die besten Früchte gezeitigt hat? Die Höhe, auf der die deutsche Volksschule steht, ist errungen worden ohne jene gefährlichen Neuerungen, die jetzt getroffen werden sollen; man hat es oft genug betont, daß der Krieg von 1870/71 mit Hilfe des deutschen Schulmeisters, mit Hilfe unserer Volksbildung gewonnen worden sei - warum also in so grundstürzender Weise die Bedingungen ändern, unter denen das alles erlangt wurde, mögen sie auch nicht überall vollkommen sein?

Aber man sagt, für künftige Kämpfe reiche eben nicht mehr aus, was doch in den alten den Sieg befördert hat; der Reichskanzler hat erklärt, man brauche die Religion als das beste Mittel gegen den Umsturz aller wirthschaftlichen und staatlichen Verhältnisse, womit wir bedroht werden, und um dieses Mittel umfassender und fruchtbarer zu machen, soll die Freiheit des Gewissens in kirchlichen Zwang gelegt werden. Und das ist es, was das geplante Schulgesetz hineinstellt in einen allgemeinen Zusammenhang, zu einem Symptom unter vielen macht. Die Zeit, sagt man, ist krank, krank daran, „daß der Idealismus uns verloren geht“, krank an wilden Vorschlägen einer Volksbeglückung, die keine ist, und da wird nun dem Patienten eine Zwangskur verordnet, in der Religion das Allheilmittel sein soll. Wo immer ein Schaden aufbricht, da soll Religion staatlich zudiktiert werden, man ruft nach ihr wie sonst nach der Polizei. Und nicht sowohl die Religion selbst hat man dabei im Auge, als vielmehr Zwecke, die ihr fremd sein müssen, den Nutzen, den man aus ihr herauszubringen hofft für den Staat, dem angeblich andere Mittel nicht mehr recht dienlich sein wollen. So sucht man die Religion staatlich aufzudrängen, während sie doch nur als eine frei entstandene Ueberzeugung wirklich nützen könnte; wie man durch eine segensreiche Zwangsversicherung die Leute frei zu machen gesucht hat von der Noth in Unfällen, in Krankheit und Alter, so will man jetzt bei der Religion gegen alle Schäden eine Unfallversicherung für den Staat nehmen und beabsichtigt hier in geistigen, in den innerlichsten Dingen den gleichen Zwang wie dort auf materiellem Gebiet. Das ist eine Uniformierung der Geister, die nur verderblich wirken kann.

Es ist nicht unsere Aufgabe, im Namen der angerufenen Religion zu antworten, aber das darf ausgesprochen werden: gerade diejenigen die es ernst mit ihr meinen, müßten sich die Handlangerdienste verbitten, die sie mit der Religion leisten sollen, gerade sie müßten alle Rücksicht weit abweisen, welche die Religion auf politische Zwecke nehmen soll, da diese nun einmal keine Berechnung

irgend welcher Art vertrage und sich also auch nicht als beliebig

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 183. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_183.jpg&oldid=- (Version vom 27.5.2020)