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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


sind, bringt das Werk des „Vereins für innere Medizin“, das man wohl als epochemachend bezeichnen kann, umfassende, in einigen Punkten erschöpfende Aufklärung. Die Zeit ist vorbei, da die Aerzte der tückischen Krankheit als Neulinge gegenüberstanden. Auch die geschichtliche Forschung hat ihre Bearbeiter gefunden, und dabei hat es sich herausgestellt, daß die Influenza, weit entfernt, eine neue Krankheit zu sein, eine der ältesten ist, welche die Menschheit geplagt haben. – Schon in den überlieferten Schriften der Alten finden sich Hindeutungen auf eine Krankheit, die mit der Influenza identisch gewesen sein muß. Nach einer Beschreibung des Hippokrates, des Stammvaters der Aerzte, und einer späteren Erwähnung des römischen Historikers Livius muß im Jahre 412 v. Chr. eine Influenza-Epidemie in den Mittelmeerländern gewüthet haben. Ganz sicher festgestellt ist das Erscheinen der Influenza im Jahre 1387, seit welcher Zeit sie in regelmäßiger Wiederkehr aufgetreten ist, in mehr oder weniger ausgebreiteten Epidemien. Germain Sée, der berühmte Pariser Kliniker, veröffentlicht folgendes Dokument aus dem Jahre 1427, entnommen dem „Tagebuch eines Bürgers der Stadt Paris unter den Königen Karl VI und Karl VII“, also eines Zeitgenossen der Jungfran von Orleans:

Das Kolumbusdenkmal in Genua.


„Item, zu dieser Zeit, ungefähr fünfzehn Tage vor Sainct Rémy (d. h. um den 15. September, da Saint Rémy am 1. Oktober ist) war eine schlechte verdorbene Luft, welche eine sehr böse Krankheit herbeibrachte, genannt die ‚Dando‘, und es gab nicht einen einzigen Menschen, der sie nicht fühlte während der Zeit, da sie andauerte. Und so war die Art, wie sie verlief: sie begann in den Nieren und in den Schultern, und es war keiner, von dem sie Besitz ergriffen hatte, der nicht glaubte, blasenkrank zu sein, so grausame Schmerzen verursachte sie, und danach bekamen alle starke Fieberschauer, und es dauerte wohl 8 oder 10 oder 15 Tage, daß man weder trinken, noch essen, noch schlafen konnte, die einen mehr, die andern weniger; danach bekam jeder einen so bösen Husten, daß, wenn man in der Kirche war, man nicht hören konnte, was der Prediger sagte, wegen des großen Geräusches der Huster.

„Item, blieb sie von großer Heftigkeit wohl bis 15 Tage oder mehr über Toussains (Allerheiligen, 1. November). Und es wurde nicht mehr Mann oder Weib gefunden, so nicht Mund oder Nase mit schwerem Ausschlag bedeckt hatten, und wenn man sich begegnete, fragte einer den anderen: ‚Hast du noch nicht die Dando gehabt?‘ Wenn er nein sagte, antwortete man ihm alsbald: ‚So nimm dich wohl in acht, daß du sie nicht zu schmecken bekommst!‘ Und man lügt wahrhaftig nicht, daß es damals weder groß noch klein, weder Weib noch Kind gab, die nicht Entzündung oder Fieber oder langdauernden Husten hatten.“

Damals also hieß die Influenza „Dando“, wahrscheinlich ebenfalls ein italienischer Ausdruck. Das 16. Jahrhundert erlebte vier heftige Epidemien: 1510, 1557, 1580 und 1593; während der ersten von diesen starben z. B. in Rom 9000 Menschen. Mit der letzten aber erleidet die Influenza eine seltsame Veränderung geographischer Natur. Bis dahin wanderte sie nachweisbar von Westen nach Osten; seit dem 17. Jahrhundert jedoch sind alle Influenzaseuchen von Osten gekommen und haben sich westwärts verbreitet, so daß einige Forscher früher, allerdings irrthümlich, annahmen, der Herd der Krankheit sei in China zu suchen. Merkwürdig ist auch die Veränderung, die in der Geschwindigkeit ihres Laufes eingetreten ist. Die Epidemie brauchte 1780 mehr als sechs Monate, um von Petersburg nach Paris zu kommen; 1837 legte sie denselben Weg in weniger als sechs Wochen zurück; 1890 aber in drei Tagen. Wenn man noch 1857/58, in dem Jahre, wo Europa die letzte Grippe-Epidemie zu überstehen hatte, ein Jahr rechnete für die Zeit, welche die Krankheit brauchte, um sich über den ganzen Erdtheil auszubreiten, so haben die letzten Epidemien von 1889/90 und 1891/92 gezeigt, daß sie jetzt dazu nur weniger Wochen bedarf. Diese Beschleunigung hängt wahrscheinlich mit der Beschleunigung des Verkehrs zusammen. Die Eisenbahnzüge führen den Ansteckungsstoff an einem Tage über Hunderte von Meilen fort.

Um ein richtiges Verständniß von der Sache zu gewinnen, ist es erforderlich, daß man die Ausbreitungsweise, den Gang der Epidemie von 1889/90 kennenlernt. Man hat sie bis nach Buchara in Turan zurückverfolgt; dort trat sie schon im Mai 1889 auf. Von hier aus verbreitete sie sich in zwei Richtungen: nach dem Kaukasus und nach Sibirien. Von diesen beiden Seiten her überzog sie Rußland, in erster Reihe die großen Städte befallend.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_185.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)