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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

selber, die, wenn auch nicht ganz harmlos, so doch keine unmittelbare Lebensgefahr in sich schließen. Andere Zustände sind mehr schmerzhaft oder unangenehm und die Lebensfreude störend, so die oft hartnäckigen Nervenschmerzen (Neuralgien), eine anhaltende, allen Mitteln Trotz bietende Schlaflosigkeit und die sogenannte „Nervosität“, die indessen, im Gegensatz zu der gewöhnlichen, leicht heilbar ist. Auch Lähmungen und Krämpfe sind keine seltenen Erscheinungen, ebenso Geistesstörungen, vorzugsweise hypochondrische und melancholische Zustände, die als letzte Nachzügler sich gewöhnlich erst während der Genesungsperiode einstellen. Von geringerer Bedeutung sind die Komplikationen von seiten der Augen und der Ohren, auch aus dem Grunde, weil sie im Verhältniß zu den anderen Nachkrankheiten selten auftreten. Mehr unschuldiger Natur sind die masern-, scharlach- und nesselfeuerartigen Hautausschläge, wie sie vereinzelt beobachtet und nicht selten für wirkliche Masern oder Scharlach gehalten worden sind; hier seien diese nur der Vollständigkeit wegen erwähnt.

Zu Anfang Januar dieses Jahres trat eine Entdeckung ans Licht, die geeignet erscheint, der Influenzaforschung eine exakte Grundlage zu verleihen. Man glaubt, den Erreger der Krankheit, den Influenza-Bacillus, gefunden zu haben. Von zwei verschiedenen Seiten war man dem Ruhestörer aller fünf Erdtheile auf den Leib gerückt, man faßte ihn gleichsam im Rücken und in der Front zu gleicher Zeit. Im Rücken, indem man ihm auf seinem Wege in den menschlichen Körper folgte, der durch Mund und Nasenhöhle führt, und die schleimigen Auswürfe der Kranken untersuchte; in der Front, indem man ihm entgegenging dort, wohin er endlich gelangen muß, wenn er das Innere der Lungen bis in die feinsten Verästelungen der Luftwege durchsetzt hat, nämlich im Blute der Patienten und, leider muß man in diesem Falle oft sagen, der Gestorbenen. Jene Angriffsstellung nahm man in dem bakteriologischen Institut Robert Kochs zu Berlin ein, des Hauptes der neuen Wissenschaft der Bakteriologie, der bekanntlich die feinsten Methoden erfunden hat, den winzigen Lebewesen auf die Spur zu kommen; diese Angriffsstellung nahm man ein in dem Berliner städtischen Krankenhaus Moabit, in der Abtheilung des Direktors Dr. Guttmann. Dort stieß Dr. Robert Pfeiffer, der Schwiegersohn Kochs, im Verein mit dem begabten japanischen Forscher Dr. Kitasato auf einen Bacillus, in dem er den Influenzaerreger erkannt zu haben glaubt; hier gelang dasselbe dem Dr. Canon. Geheimrath Koch selber unterzog sich der Mühe, die Identität der beiden gefundenen Bacillen festzustellen. In der Sitzung der Gesellschaft Berliner Charité-Aerzte vom 7. Januar machten beide Entdecker die erste offizielle Mittheilung von ihrem Funde.

Am 29. November 1891 wurden die ersten Influenzakranken dem Kochschen Institut eingeliefert und vom Leiter dem Dr. Pfeiffer zur Untersuchung überwiesen. Pfeiffer hatte nach etwa 14 Tagen den Bacillus im Sputum (Auswurf) der Patienten festgestellt. Die Suche war deswegen eine so schwierige, weil das Sputum erst vollkommen von den unzähligen Bacillen der Mundhöhle, die mit der Influenza nichts zu thun haben, gereinigt werden mußte. Zu diesem Behuf erfand Geheimrath Koch ein eigenes, ganz besonderes Verfahren, das er indeß noch nicht bekannt gegeben hat. Nach dem glücklichen Verlauf dieses Prozesses gelang es, den Bacillus zu erkennen und sogleich sah man, warum alle Versuche, die 1889/90 angestellt wurden, um ihn zu finden, vergeblich gewesen waren. Der Bacillus nämlich erwies sich von einer Kleinheit, die bisher auch in dem Reiche der unendlich Kleinen, im Reiche der Mikroorganismen, nicht erlebt worden war. Der kleinste bekannte Bacillus war bisher der Träger der Septicämie (fauligen Blutvergiftung). Der neu entdeckte Bacillus ist noch etwa dreimal kleiner als der Bacillus der Septicämie. Anfangs erschien er als Kugel, als Kokkus, nicht unähnlich dem Friedländerschen Pneumoniekokkus, dem Erreger der Lungenentzündung. Erst bei Anwendung der stärksten Vergrößerungen erkannte man seine echte Stäbchen-(Bacillen-) Natur. Da fand man, daß er etwa doppelt so lang wie breit sei und daß er an beiden Enden keulige Verdickungen trage (Hantelform), die sich auch lebhafter färbten als das schlanke Mittelstück. Neben den größeren Formen wurde diese kleine um so leichter übersehen, als ihre Kulturen nicht zusammenfließen, sondern isoliert bleiben.

Seit dem 15. Dezember züchtete Dr. Kitasato den Bacillus in Reinkulturen auf Agar-Agar, einem sehr brauchbaren Präparat aus ostindischer Meeresalge, die, beiläufig gesagt, auch zur Appretur und zum Leimen des Papiers verwandt wird. Kitasato erhielt bis zehn Generationen. Die Kontrolversuche an Thieren, die Pfeiffer anstellte, hatten ziemlich günstige Ergebnisse. Er impfte Reinkulturen auf Kaninchen, Ratten, Tauben, Meerschweinchen und Affen über; es reagierten allerdings nur Kaninchen und Affen; bei ihnen aber stellten sich Anzeichen der Influenza ein. Pfeiffer fand den Bacillus beim Menschen massenhaft in den Bronchien und im Speichelauswurf, und zwar nur, wenn Influenza vorhanden war, sonst nicht – nicht bei einfachen Katarrhen, nicht bei Lungenentzündungen, nicht bei Tuberkulose.

Unabhängig von Koch, Pfeiffer und Kitasato arbeitete Canon im Moabiter Krankenhause. Er untersuchte das Blut von Patienten, die sehr schwer an Influenza leidend oder an Influenza gestorben waren. Er fand denselben Bacillus und hat ihn auch aus dem Blute gezüchtet. Der Bacillus ist ein andrer als der, den Kirchener fand und für den Influenza-Bacillus hielt.

Mit der Entdeckung der Krankheits-Ursache wäre ein großer Schritt vorwärts geschehen. Zwar ist ein Heilmittel damit noch nicht gefunden, aber es ist dann eher Aussicht vorhanden, ein Spezifikum zu entdecken. Außerdem aber giebt die Erkenntniß der Ursache prophylaktische (vorbeugende) Fingerzeige. Der Bacillus kommt zu Milliarden im Schleimauswurf Kranker vor und es ist die Ansicht Pfeiffers, daß die Influenza vorzugsweise durch diese im Schleimauswurf enthaltenen Bacillen verbreitet wird. Sowie der Schleim austrocknet, bleibt der bacillenhaltige Rest als Staub übrig, den jeder Luftzug emporwirbelt und davonführt. Es ist also vor allem geboten, daß man den Auswurf von Influenzakranken in verschlossenen Glasgefäßen sammelt.

Die Kleinheit und Massenhaftigkeit dieses Bacillus würde sowohl die große Verbreitung der Krankheit als auch einen andern höchst merkwürdigen Umstand erklären. Sowie nämlich irgendwo eine Indluenzaseuche ausbricht, treten die anderen ansteckenden Krankheiten, selbst wenn sie zu Epidemien ausgeartet wären, zurück. Masern, Scharlach, Diphtheritis, selbst akute rheumatische Erkrankungen weichen. Es ist, als ob die Influenzabacillen mit den anderen Mikroben einen Kampf auf Leben und Tod führten und vermöge ihrer Ueberzahl den Sieg davontrügen. Freilich heißt das für die leidende Menschheit, den Teufel durch Beelzebub austreiben. Gesellt sich Influenza zu anderen Krankheiten, so werden diese arg verschlimmert. Die Influenza beraubt den Körper der Widerstandskraft, die er gegen die Krankheit noch besaß; so verschlimmern sich namentlich Herz- und Lungenleiden, auch Geistesstörungen. Auch auf Operationswunden wirkt die Influenza ungünstig ein. Tritt sie hinzu, so entstehen zuweilen Fälle von Blutvergiftung, die aller Antiseptik spotten.

Es ist festgestellt, daß das einmalige Ueberstehen der Influenza keine Gewähr leistet, von ihr fernerhin verschont zu bleiben, wie es bei Masern, Scharlach, Blattern und ähnlichen Leiden der Fall ist. Dagegen läßt sich jetzt noch nicht mit Sicherheit entscheiden, ob die Influenza auf miasmatischem Wege, d. h. durch Keime, die in der Luft schweben, sich verbreitet, oder durch Ansteckung von Person zu Person. Die Versuche von Pfeiffer sprechen für letzteres, doch auch das erstere ist nicht ausgeschlossen. Ja, man ist sich noch nicht einmal klar darüber, ob die neue Epidemie selbständig war oder nur das Aufflackern der noch nicht ganz erloschenen vorigen. In Bezug auf die Behandlung dagegen sind einige Fortschritte zu verzeichnen. Namentlich scheint das neueste Mittel, das Salipyrin, sich zu bewähren; es wird jetzt allgemein den früheren Mitteln, Chinin, Jodkalium, Naphthol, Salol, Antipyrin, vorgezogen. Im allgemeinen muß man sich heute noch auf eine rein symptomatische Behandlung beschränken, d. h. auf eine solche, welche die hervorstechendsten Krankheitserscheinungen bekämpft. Am besten ist es wohl, dem Influenzabacillus tüchtig einzuheizen. Er hat die gute Eigenschaft, schnell zu degenerieren, zu entarten. Diese Neigung unterstütze man, indem man sich möglichst warm und bei Kräften erhält. Man vermeide die Wechselfälle der freien Luft, bleibe in einem wohlgeheizten und wohlgelüfteten Zimmer, man wechsle häufig Strümpfe und Unterkleider, vermeide kalte Getränke, aber auch ein Uebermaß von warmen alkoholischen, halte gute Diät und bleibe womöglich im Bett, bis der böse Feind degeneriert ist und uns in Ruhe läßt.

Es ist nicht unmöglich, daß die Influenza nach zwei bis drei Jahren wiederkehrt. Man wird sie dann hoffentlich noch besser gerüstet empfangen können. Die Londoner Konferenz wird sich mit dieser Möglichkeit zu beschäftigen haben.




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