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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

der Pariser Sitten gewesen. Im Bürger- und Bauernstand erhielt man sich wenigstens das Recht, langsamer den Sprüngen der launischen Göttin zu folgen, die französische Mode von vorgestern mit Stolz und in der Ueberzeugung zu tragen, daß es so wohlanständiger sei.

Die Einheitsmode, welche heute die Welt beherrscht, ist ein Erzeugniß nicht der Völkerverbrüderung, sondern der Schneiderverbrüderung. Die Schneider trafen zusammen, um über die Behandlung des Technischen sich zu unterrichten, gewisse einflußreiche Lehrer führten sie zu der Einheitlichkeit des Geschmackes. Es waren dies die Männer, welche durch die Modejournale zur ganzen Welt der mit Nadel und Bügeleisen Arbeitenden sprechen konnten.

1835

Der Mann, welcher zuerst diese Vereinheitlichung des künstlerischen Theiles der Männerbekleidung ins Leben rief, war Antoine Fernand Barde (geb. 1786), zugleich der erste große Theoretiker seines Faches, der sich 1810 durch eine damals mit Begeisterung von den Schneidern angenommene Neuerung in Paris bekannt machte, indem er nämlich beim Maßnehmen an Stelle des jetzt nur noch beim ländlichen Schuhmacher üblichen Papierstreifens das Centimetermaß anwendete. Seit 1818 unterhielt er in der Rue Vivienne 8 ein Geschäft, das er „Musée de la Mode“ nannte, das berühmteste seiner Zeit, eine bis dahin noch nicht gesehene öffentliche Ausstellnug fertiger Kleidungsstücke, die er in seinem großen „Pompe Anglaise“ genannten Atelier fertigen ließ. Für das Maßnehmen wendete er wissenschaftliche Systeme an, er erfand Werkzeuge, um die genauesten Angaben über die verschiedenen Körperformen zu erhalten, er war der erste, der eine strenge Arbeitstheilung einführte, der erste, der die Schnittpatronen in Papier ausschnitt, sie sammelte und so 1832 eine Aufsehen erregende Ausstellung veranstalten konnte, in der er sein System des Kleidermachens an zahllosen solchen Patronen erklärte. Dann brachte er sein Wissen in die Form eines Buches und ließ dies als „Traité encyclopédique de l’art du tailleur“ 1834 erscheinen. Von 1843 an leitete er das große für die Schneiderei wichtige Modeblatt „Le Parisien“, in welchem er die Herrschaft Weniger über die Erscheinung der gesammten Männerwelt erfolgreich vorbereitete.

Neben Barde wirkte Adolphe Dubois (geb. 1807), welcher im Jahre 1832 ein Lehrbuch der Schneiderkunst, den „Manuel du Tailleur“, und zugleich eine Zeitung für Schneider, nicht ein Modejournal nach alter Form, den „Précurseur des Modes“, herausgab, welchem später noch mehrere andere Blätter dieser Art folgten, namentlich der in den fünfziger Jahren sehr einflußreiche „Progrès“.

1845       1838

In Deutschland war die erste Schneiderzeitung, „Der Elegante“, in den vierziger Jahren in Weimar gegründet worden. Es ist merkwürdig, welche Summe von Anregung von dem kleinen thüringischen Fürstensitz damals ausging. Das Bertuchsche Intelligenzkomptoir hatte auch in Modefragen ihm eine Bedeutung geschaffen, die nun ein Freiherr von Biedermann zur Forderung jenes neuen Blattes ausnützte. Er war es, der zuerst die Schneider auf den Mann aufmerksam machte, welcher für die deutsche Herrenmode von entscheidender Bedeutung werden sollte, auf Heinrich Klemm.

Klemm ließ im Jahre 1844 zu Leipzig das „Handbuch der Bekleidungskunst für Herren“ in seinem eigenen Verlage erscheinen. Es war das erste völlig sachgemäße Lehrbuch seiner Art in Deutschland. Im selben Jahr erlebte es eine zweite, heute steht es nahe vor der fünfzigsten Auflage, trotz seines nicht unbedeutenden Preises. Schon 1848 übernahm Klemm die Leitung des Blattes „Der Elegante“, gab sie aber, wohl erkennend, daß die Mode eines großstädtischen Mittelpunktes bedarf, 1849 schon wieder auf, da er in Dresden einen Mann gefunden hatte, mit dem er gemeinsam Größeres zu erreichen hoffte, den Schneider Gustav Adolf Müller. Beide gründeten zusammen zwei Unternehmen, erst eine Schule und dann 1850 eine Zeitung: die „Deutsche Bekleidungsakademie“ und die „Europäische Modenzeitung“.

Beide Unternehmungen bestehen noch heute, obgleich ihre Leiter inzwischen verstorben sind. Lange Zeit haben sie auf Deutschland und auf einen großen Theil namentlich der östlichen Nachbarländer einen maßgebenden Einfluß geübt. Denn noch heute hat Dresden, die einstige Hauptstadt des glänzendsten Königs von Polen, für jene Länder den Strahlenkranz besonderer Eleganz. Ein Ausschuß, welcher sich aus den ersten Schneidern Deutschlands, Oesterreichs, Rußlands und Skandinaviens zusammensetzt, verwaltet die Anstalt, die sich jetzt „Genossenschaft der Europäischen Moden-Akademie“ nennt und an deren Spitze Klemm und Müller lange Jahre standen. Der Unterricht erstreckt sich für Reifere auf das Zuschneiden aller Art, für Lehrlinge auf die gesammte praktische Schneiderei in Lehrstufen von 1 bis 2 Jahren. In geistiger und räumlicher Verbindung mit der Anstalt steht der Verlag der „Europäischen Modenzeitung“, der nicht nur dieses, sondern fast ein Dutzend verwandter Blätter erscheinen läßt, während ein zweites von Klemm gegründetes Verlagsunternehmen vorzugsweise die Lehrbücher für alle Gebiete der Schneiderei herausgiebt.

1848

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_206.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)