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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Stachel versehenen Bergstock. Es ist Haymo, der Klosterjäger, der dem Propste Heinrich[1] von Berchtesgaden[2] die Hirsche, Gemsen und Steinböcke[3] hütet.

Vor Wochen schon, da der Schnee noch tief lag und im Marsche kaum zu überwinden war, hatte Haymo die Jägerhütte bezogen, hoch über dem grünen Bartholomäus-See[4], in einem weiten Felsenthal, das von den rothen Marmorwänden, die es rings umschließen, seinen Namen erhalten: „In der Röth’“.

Alltäglich, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, machte Haymo seinen Hegergang; das war für ihn eine harte Zeit, er durfte keine Stunde rasten und mußte die Augen offen halten den ganzen langen Tag. Denn der strenge Winter hat das Wild vertraut und zahm gemacht, und die Raubschützen haben leichte Arbeit; in großen Rudeln ziehen die Hirsche schon früh am Abend auf die offenen Almen und erst am späten Morgen wieder zu Holz; die Gemsen stehen tief unten im Bergwald und sogar die scheuen Steinböcke trieb der Winter aus ihren unwegsamen Felsrevieren hernieder in die Nähe der verlassenen Almhütten. Da galt es, unermüdlich Wache zu halten, denn gerade dieses seltene, edelste Wild war von den Raubschützen am meisten bedroht.

Ein „Stainpokh“ war ja die wandelnde Apotheke; die gerippten Hörner, die Hornschalen der Füße, das getrocknete Blut, welches im Volksmund „Schweißbluh’“ genannt wurde, und besonders die „Herzkhreizl“, jene kleinen, knochenähnlichen Gebilde, die im Herzen des erlegten Thieres gefunden werden, alles an ihm war wunderbar heilsam wirkende Arzenei, welche von Herren und Bauern mit theurem Gelde bezahlt wurde. Wohl standen schwere Strafen auf der Erlegung solch eines Wildes, Kerker und Peitsche, Verlust der rechten Hand, sogar der Tod – denn der Raubschütze war vogelfrei, und der Jäger durfte ihm, wenn er ihn auf frischer That ertappen konnte, allen Rechtes den Bolz in die Kehle jagen. Aber alle Bolzen treffen nicht, dachten die Raubschützen, der hohe Gewinn verlockte sie, und so kam es, daß Haymo schon in der ersten Woche seiner Hegezeit den Abgang zweier Steinböcke vermerken mußte. Als unwiderlegbare Zeugen des geschehenen Raubes hatte er im Schnee die Schweißfährten der erlegten Thiere und die Fußspuren des Räubers gefunden, die sich im tieferen, schneefreien Bergwald verloren. Als am Ende der Woche ein Laufbube des Klosters dem Jäger frischen Mundvorrath gebracht hatte, schickte Haymo mit dem Buben diese schlimme Nachricht hinunter ins Thal, in banger Sorge, wie Propst Heinrich, der an seinem Weidgehege und besonders an dem edlen Steinwild eine ritterliche Freude hatte, diese Botschaft aufnehmen würde.

Und die ganze folgende Woche hindurch gönnte er sich keine Ruhe mehr, in der Nacht kaum einen kurzen Schlaf, und es war ihm nicht zu verdenken, daß ein zornflammendes Wort von seinen Lippen flog, so oft er nur in seinem öden Bergrevier die Fährte eines menschlichen Fußes spürte. Nur eine Gesundheit, so jugendfrisch und eisern wie die seine, konnte diese aufreibenden Strapazen überdauern. Wenn er nach tagelangem Marsche heimkehrte in seine Blockhütte, dann lag ihm wohl die bleierne Müdigkeit in allen Gliedern; aber er brauchte sich nur auf sein Lager zu werfen, und es fiel auch schon ein fester, traumloser Schlaf über seine jungen Augen, der ihn erquickte, wenn er auch nur wenige Stunden währte und immer wieder unterbrochen wurde. Denn Haymo hatte sich, um in diesem schweren Schlummer das erste Grauen des Morgens nicht zü verschlafen, einen Wecker erfunden. Er band sich mit einer Lederschnur einen schweren Stein an den Arm und legte, wenn er sich auf die Wolfsdecke streckte, diesen Stein so lose auf die Holzkante seines Lagers, daß er bei der leisesten Erschütterung zu Boden gleiten mußte. So oft dann Haymo im Schlummer sich bewegte, weckte ihn der fallende Stein. Lag in der Hütte, wenn er erwachte, noch die finstere Nacht, dann stellte Haymo den Wecker wieder zurecht und schlummerte weiter. Doch wenn er sah, daß draußen vor dem kleinen Fenster die Sterne zu erblassen begannen, dann sprang er auf, wusch sich am rinnenden Quell, dessen eiskaltes Wasser vor der Hütte plätscherte, nahm sein karges Frühmahl ein und wanderte hinaus in den vom Föhn durchrauschten Frühlingsmorgen. Noch waren die Nächte kalt, und es währte immer eine Weile, bis Haymo das Frösteln aus seinen Gliedern brachte; aber der rasche Gang auf beschwerlichem Wege machte gar bald sein Blut lebendig, frische Röthe färbte wieder seine jungen Wangen, und seine Augen blitzten hell wie Wasser, in das die Sonne scheint.

Je wilder ihn der Frühlingssturm umrauschte, desto freier und wohler wurde ihm zu Muthe. Und wenn sich der Morgen, an dem er das zu Holze ziehende Wild nicht stören und scheuchen durfte, zum vollen Tage wandelte, sang er wohl, um der in seinem Innern stürmisch treibenden Lebenskraft einen Ausweg zu schaffen, mit hallender Stimme ein Lied in den Saus und Braus, der ihn umgab, der steigenden Sonne entgegen, die mit ihrem funkelnden Gold die schneebedeckten Kuppen der Berge überschmolz. Dann freilich, wenn die Jägersorge, die ihn all diese Tage her bedrückt hatte, wieder sein Herz beschlich, wurde er gar stille, stieg lautlos empor von Höhe zu Höhe und schickte die spähenden Augen in die Runde.

Da hatte er nun wieder einen schweren Tag hinter sich. Auf dem Heimweg zur Hütte begann er die Ermüdung hart zu spüren; in all diesem tobenden Sturm, in all diesem Schnee und rinnenden Gewässer war es ja kein Marsch zu nennen, den er gemacht, vielmehr ein Kampf um jeden Schritt. Wohl dämmerte schon der Abend, aber solange noch ein Schimmer von Licht über den Halden schwebte, durfte er nicht an die Heimkehr in seine Hütte denken. Auf der hohen Bergrippe, zu welcher er just emporstieg, wollte er den Anbruch der Nacht erwarten

Als er die Höhe betrat, winkte ihm, scharf abgehoben vom rothglühenden Abendhimmel, ein mächtiges Kreuz entgegen; ein Dächlein war darüber gespannt, in den Querhölzern steckten die Nägel, aber das Bild des gekreuzigten Erlösers fehlte; die frommen Almbauern hatten es wohl im späten Herbste vom Kreuz genommen, damit es nicht leiden möchte von der Unbill des Winters, von Schneedruck und Lawinen.

Haymo zog die Kappe und sprach ein kurzes Gebet. Dann ließ er sich zu Füßen des Kreuzes nieder, lehnte sich an den Stamm, verschlang die Hände hinter dem Haupte und blickte still umher mit müden Augen, die sich schon dem Schlummer entgegensehnten. In kurzen Stößen, bald sich dämpfend, bald wieder anbrausend mit verstärkter Macht, sauste der Föhn über ihn hinweg. Die Zweige der Krüppelföhren, mit denen die Höhe bewachsen war, duckten sich in gleichmäßiger Welle vor jedem anrauschenden Windstoß und hoben sich, wie aufathmend, langsam wieder empor. Gegen die steil aufragenden Felswände hinan zog ein mehr als hundertjähriger von Stürmen und Lawinen stark gelichteter Lärchenwald, dem die Nähe des Kreuzes seinen Namen gegeben … er hieß „der Kreuzwald“. An so manchem Morgen war Haymo schon zu diesem Wald emporgestiegen, um den ersten Balzruf eines Auerhahns zu erlauschen. Aber der stolze, einsiedlerische Vogel, dieser gefiederte Liebessänger der Berge, mochte wohl den Frühlingsmorgen noch zu frostig finden, um den Sang seiner heißen Liebe zu beginnen.

Zur Linken der Kreuzhöhe breitete sich das weite Felsenthal aus, an dessen jenseitiger Grenze, von einzeln stehenden Fichten überschattet, die Blockhütte des Jägers stand und daneben das größere Balkenhaus, in welchem Herr Heinrich und der Klostervogt zu nächtigen pflegten, wenn sie pirschen kamen. Zur Rechten der Kreuzhöhe lag ebenfalls ein weites Thal, in welchem dichte Gruppen der Zwergföhre mit wirrem Geröll und grasbewachsenen Stellen wechselten, zu deren schüchtern sprossendem Grün das Steinwild um diese frühe Jahreszeit gerne auf Aesung zog. Der Kreuzhöhe zu Füßen dehnte sich der mächtige Bergwald, der das vom Schnee schon völlig entblößte Almenland umschloß und dann, umschleiert schon vom dunklen Abendschatten, sich niedersenkte in die Tiefe, in welcher der See gebettet lag.

Haymo konnte von der Stelle aus, an welcher er saß, den See nicht gewahren, auch nicht das weite Klosterland im Thal. Die tiefer liegenden Bergrücken wehrten seinem Auge den Niederblick.

  1. Heinrich von Inzing, der 21. Propst des Klosters Berchtesgaden, 1333–1351.
  2. Der Markt Berchtesgaden führt in älteren Urkunden neben „Berhthersgademe“ und „Perchtensgaden“ auch den Namen „Berchtoldsgaden“; der Volksmund sagt noch heute „Bertlsgaden“.
  3. Steinwild gab es im Watzmann- und Wettersteingebiet bis gegen Ende des 14. Jahrhunderts; die Erfindung der Feuerwaffen machte dem edlen Wilde in den bayerischen und Tiroler Bergen den Garaus. „Dann als die Hanndpuxen aufkummen sein,“ heißt es in Kaiser Maximilians Weißkunig, „hat man angefanngen, damit die Stainpökh zu schiessen, das durch die pawrsleut beschehn ist, die dann, wo Sy über das wildpret kumen, kein maß halten, sondern Irer pawrnart nach ausöden.“
  4. Königssee.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_230.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2023)