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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Aber rings umher in weiter Runde bot sich ihm ein Bild von unnennbarer Schönheit. Uebergossen von der rothen Gluth der sinkenden Sonne ragten die gewaltigen Schneeberge empor über das dunkle Meer der Wälder; dem Jäger zur Linken die wilden Tauern und die beiden Riesenzacken des Watzmann, zur Rechten der stolze, unwegsame Göhl, und in der Ferne, von bläulichem Schattenduft umwoben, stiegen die scharfgezahnten Lattenwände und die plumpen Massen des Unterberges in den golddurchleuchteten Abendhimmel. Denn wenn auch der Föhn mit Brausen alle Lüfte füllte, so trübte doch kein Wölklein den frühlingsklaren Himmel, um die Zinnen der Berge flatterte keine Nebelflocke, und ohne Dunst und Schleier lag das tiefere Gelände.

Unter langen Athemzügen hob sich Haymos Brust. Bei all dem stillen Schauen, mitten in Sturm und Wehen, befiel es ihn wie träumender Halbschlummer. Dann jählings erwachte er und fuhr betroffen auf, beinahe berührt von abergläubischem Schreck.

Ein junges Mädchen stand vor ihm, ihn betrachtend mit großen, staunenden Augen.

Er hatte den Hall ihrer nahenden Schritte nicht vernommen, er hatte sie nicht emportauchen sehen über den Rand der Höhe … plötzlich stand sie vor ihm, als wäre sie aus den Lüften getreten. Und in ihrem schlanken zarten Wuchse, mit dem blassen feingeschnittenen Gesichtchen und den tiefen Räthselaugen, umflattert von den schwarzen Strähnen des gelösten Haares, und in dem dünnen rothen Röcklein, das der Sturmwind peitschte, war sie wohl einer jener Elfen zu vergleichen, die in den Tiefen der Berge hausen und zuweilen an das Licht der Erde steigen, um ein Menschenkind zu beglücken mit ihren Gaben.

Und sie trug ja auch ein Körbchen in der kleinen Hand! Was dieses Körbchen wohl bergen mochte? Funkelndes Geschmeide, Perlen, edle Steine?

Haymo fühlte, wie ein heißer Schauer ihn durchrann. Nun aber mußte er lächeln. Denn des Mädchens plumpe Schuhe und die ärmlichen Lappen des Gewandes hatten in Wahrheit doch wenig Elfenhaftes. Haymo erhob sich.

„Dirn’? Was willst Du hier?“

Sie schwieg und betrachtete ihn noch immer mit einem halb scheuen, halb traulichen Blick.

„Dirn’! Rede doch! Woher kommst Du?“

„Von dort!“ sagte sie mit einer leisen weichen Stimme und deutete nach der steilen Schneehalde, welche sich hoch über dem Kreuzwald gegen die starrenden Felswände emporzog.

„Von dort?“ wiederholte Haymo und überflog mit einem ungläubigen Blick die zarte Gestalt des Mädcheus. Dort oben war es ein mühsames und gefährliches Gehen. Ein falscher unsicherer Tritt auf dem von Thauwasser und Föhnwind glattgewaschenen Schnee, und es ging bergab in sausender Fahrt – wohin? Das blutige Bild, welches Haymo auf diese stumme Frage vor seinen Augen auftauchen sah, weckte ein seltsam bedrückendes Gefühl in seiner Brust, und er sagte mit hastender Stimme. „Dirn’! Das war ein böser Weg! Sei froh, daß Du heil zurück bist.“

Sie schüttelte das Köpfchen und lachte – ein rechtes, hellklingendes Kinderlachen.

„Aber was hast Du nur dort oben gesucht?“

„Schneerosen,“ erwiderte sie und lüftete den Deckel an ihrem Körbchen, welches zur Hälfte angefüllt war mit jenen zarten, weißen Blüthen, die so schön und auch so kalt sind wie ein Wintermorgen. Dann wieder blickte das Mädchen lächelnd zu dem Jäger auf. „Es war eine rechte Plage. Seit dem Morgen bin ich auf den Füßen und habe doch kaum so viele Blumen gefunden, daß sie reichen für ein kleines Kränzlein. Wir sind ja schon spät im Jahr, die meisten Stöcklein haben schon verblüht.“

„Und für wen sind diese Rosen?“

„Für das heilige Grab unseres lieben Herrn. Uebermorgen ist Charfreitag.“

Eine Weile schwiegen sie. Haymo blickte zu dem leeren Kreuz empor; dann wieder sah er in die Augen des Mädchens und fragte:

„Wer bist Du?“

„Ich bin die Gittli[1]! Und Du?“

„Der Klosterjäger!“

„Der neue?“

„Ja! Und wo bist Du zu Hause, Dirn’?“

„Drunten – im Klosterdorf.“

Haymo erschrak. „Aber Dirn’! Wie willst Du den Heimweg finden? Heute noch? Das ist ein Weg, den Deine Füße nicht wandern in fünf Stunden. Und es wird eine finstere Nacht.“

„Ich weiß eine Sennhütte, von hier ein halbes Stündlein, dort will ich nächtigen.“

„Du wirst frieren! Die Nächte sind kalt.“

„Frieren?“ lachte sie. „Das Heu macht warm!“

Und da sie sich schon zum Gehen wenden wollte, nahm sie rasch ein paar Schneerosen aus dem Körbchen und schob sie zwischen die beiden eisernen Nägel, welche im Fußbalken des Kreuzes staken. Einen stummen Gruß nickte sie dem Jäger noch zu, dann fing sie mit der Hand das flatternde Haar, wand es um den Hals und huschte davon. Ein paar Schritte nur, und sie war in die Thalsenkung niedergetaucht

Haymo stand und wartete; es währte lange – dann sah er sie weit drüben im Steinthal zwischen den Büschen wieder zum Vorschein kommen; ihr rothes Röcklein schimmerte noch hell aus dem sinkenden Dunkel. Nun blieb sie stehen und schaute zurück, so glaubte Haymo. Aber es dämmerte wohl schon zu sehr, als daß er auf diese weite Strecke ihr Thun noch hätte genau unterscheiden können. Jetzt war sie schon so klein wie ein rothes Käferchen in dunklem Buschwerk … und nun verschwand sie.

Doch Haymo stand noch immer und blickte den Weg entlang, den sie gegangen. Dann athmete er tief auf, und sein Blick fiel auf die weißschimmernden Blüthen am Kreuze.

Schneerose! Du echte Blume der Berge! Nicht minder schön und lieblich als die rothglühende Almenrose des Sommers und noch geheimnißvoller als der Sammetstern des Edelweiß. Schneerose! Wenn der Winter seinen weißen Mantel über alle Berge wirft, wenn alles Blühen erstirbt und alles Wachsthum entschlummert, dann regt sich die keimende Kraft in den tiefgesenkten Wurzeln dieser einzigen Pflanze, als wäre sie bestellt zur Hüterin des Lebens, damit es nicht ganz erlösche in der toten Zeit zwischen Herbst und Frühling. In frostiger Oede sprossen ihre Blätter, und zwischen Schnee und Eis entfalten sich ihre weißen Blüthen. Und wenn zur Winterszeit der Tod durch die verschneiten Hochlandsthäler wandert und ein unschuldig Kind berührt mit seiner kalten Hand, dann klimmt die weinende Mutter empor zu den schimmernden Schneehalden und windet ihrem entschlafenen Liebling die weißen Rosen zum Kranze, als Sinnbild des ewigen Lebens.

Schneerose! Das ist Leben und Tod zugleich! Denn die Wurzeln dieser Pflanze bergen einen geheimnißvollen Saft, der kranke Herzen gesunden läßt und bleiche Wangen wieder färbt. Für jenen aber, der diese Arzenei zu gierig genießt, wird sie zum tödlich wirkenden Gifte.

„Zwei Tröpflein machen roth,
zehn Tropfen machen tot!“

So sagt der Volksmund – und während das sinkende Dunkel den weißen Rosenschimmer am Kreuze zu verschleiern begann, murmelte Haymo dieses Sprüchlein vor sich hin, als überkäme ihn die Ahnung, daß die Zeit nicht fern wäre, in welcher ihm „zwei Tröpflein“ gar nöthig würden.

Ueber allen Bergen war der rothe Schein erloschen; ein grauvioletter Duft ließ Himmel und Erde ineinanderschwimmen. Zu Haymos Häupten dunkelte schon die Nacht; nur fern im Westen zog sich über den Horizont noch ein grünlichgelber Lichtstreif, in den der gezackte Grat der Lattenwand sich schwarz hineinzeichnete.

Der Bergwald und die Gießbäche rauschten, dumpf sauste der Föhn, und durch die wirbelnde Luft hernieder funkelten mit unruhigem Glanz die erwachenden Sterne.




2.

Wohl eine Stunde hatte Haymo in der Nacht zu wandern um seine Hütte zu erreichen. Als er dem Blockhaus näherkam, gewahrte er staunend, daß durch die halb offene Thür und das kleine Fenster der röthliche Schein eines Herdfeuers leuchtete. Wer war zu Gast gekommen? Er beschleunigte seine Schritte.

  1. Brigitte.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_231.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2023)