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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Haymo erblaßte. Das hatte ihn ins Herz getroffen, denn er hing am Weidwerk und an den schönen freien Bergen wie ein Blatt am Baum, welches welken und sterben muß, wenn es der Wind vom Aste reißt. Er brachte kein Wort hervor; nur die Fäuste stieß er auf den Tisch und biß die Lippen übereinander.

Als Frater Severin gewahrte, was er angerichtet hatte, streichelte er dem Jäger die zitternde Faust und sagte begütigend: „Nun, nun, so schlimm wird es ja nicht gleich werden, den Herrn Heinrich brauchst Du nicht zu fürchten. Wenn er auch manchmal ein wenig aufbraust … Worte, Haymo, Worte! Komm’ Du morgen nur hinunter, stelle Dich fest auf Deine Füße, schau ihm frei ins Auge – und alles ist gut! Und wenn Herr Schluttemann, der Klostervogt, ein Hagelwetter losläßt, so nimm es nicht ernst und schüttle den Pelz! Weißt, der speit halt Feuer, weil ihm Frau Cäcilia gehörig einheizt. In seiner Vogtstube hängt ein Bild – hast es gesehen? Der heilige Georg, der den Drachen ersticht! Ich mein’, da sollte eher ein Bild hängen: der Drache, der den heiligen Georg ersticht, doch nicht mit der Lanze, sondern mit einer Blutwurst!“

Er wollte weiter sprechen. Aber vom Herde her klang die Stimme des Buben „Frater Severin!“

„He?“

„Wißt Ihr, wen ich heute gesehen hab’ in aller Gottesfrüh’?“

„Wen?“

„Den Schwarzen! Drunten am See, unter einer Fichte saß er und flickte an einem Netz, als wär’ er nicht der Pater Fischmeister, sondern ein höriger Knecht! Und als ich vorüberging, machte er Augen gegen mich wie Feuer, richtig zum Fürchten! Das ist einer!“

„Das ist freilich einer!“ wiederholte Frater Severin. Und um den Jäger von seinen trüben Gedanken loszureißen, fragte er ihn: „Hast Du ihn nie gesehen – drunten am See?“

Haymo schüttelte den Kopf.

„Heuer um die Weihnachtszeit haben sie uns den hergeschickt von Passau. Warum? Ich weiß es nicht! So ’was erfährt ja unsereiner nie! Er soll aus fürstlichem Geblüt sein. Aber da drinnen …“ er pochte auf seine Brust, „da muß es gar finster ausschauen bei dem! Ganze Tage lang ist er im verschneiten Klostergarten auf und ab gewandert wie ein Gespenst. Und jetzt im Frühjahr, da haben sie ihn zum Pater Fischmeister gemacht und an den See geschickt. Drunten, weißt Du, wo es herausgeht über den Wildbach, in dem öden Winkel zwischen Felsen und See, da haust er in seiner Klause … und könnt’ es so gut haben in seiner Klosterstube! Mutterseelenallein! Freilich, umsonst heißt er nicht Pater Desertus, der ‚Einsam‘! Meinst Du, er duldet einen Knecht in seiner Nähe? Draußen im Seedorf müssen sie sitzen und dürfen nur kommen, wenn er sie ruft mit seiner Glocke.“

Haymo hörte nur mit halbem Ohr. Als Frater Severin das merkte, rüttelte er den Jäger am Arme. „Aber so rede doch auch ein Wort! Das ist ja langweilig, so stumm zu hocken wie eine Raupe im Kohl! Komm’ her! Trink’ einen Schluck! Und dann erzähl’ mir! Wo bist Du denn eigentlich her?“

„Aus Sankt Benedikti Buren!“[1]

„Wo Herr Heinrich vor Wochen zu Gast war?“

„Ja! Er fand Gefallen an mir und nahm mich mit.“

„Da hat er recht gehabt! Ich hätt’ es auch so gemacht! Sag’, sind Deine Eltern Klosterleute?“

Haymo senkte das Haupt, und seine Stimme zitterte. „Mein Vater war Senn; bei einem bösen Wetter hat ihn der Blitz erschlagen, und meine Mutter ist drüber gestorben aus Gram.“

„Armer Teufel!“ murmelte Frater Severin und wollte des Jägers Hände fassen.

Haymo aber erhob sich und verließ die Stube. Draußen umfing ihn die finstere Nacht. Lange stand er an den Stamm einer Fichte gelehnt, die unter dem stoßenden Föhn erzitterte bis in die Wurzeln. Er blickte empor zu den Sternen. Aber er sah ihr Funkeln und Leuchten nicht; die Bilder der Vergangenheit, traurig und froh, zogen an seinem Auge vorüber: die stürmische Nacht, da man den Vater brachte als einen stillen Mann; der Morgen, an welchem man die Mutter tot auf ihrem Lager fand; der schöne Abend, da ein Klosterknecht den zehn jährigen Buben zum Pater Wildmeister in das Jachenthal brachte; die erste Bergfahrt, der erste Schuß in die Scheibe und der erste in das Herz eines stattlichen Hirsches; und dann die frohen Jahre hoch oben im freien Revier der Berge, mit all ihren Jägersorgen und Jägerfreuden … bis zu diesem letzten Abend, an welchem das Mädchen mit den Schneerosen so plötzlich vor seinen Augen stand, selbst einer Schneerose vergleichbar, schlank und schön wie eine Elfe.

„Gittli!“

Weich und leise kam der Name von Haymos Lippen. Seine Blicke bohrten sich in die Nacht. Aber dort unten, wo der rauschende Bergwald den Almenhang und jene Hütte umschloß, in welcher das Mädchen Schutz gesucht für diese Nacht … dort unten war alles schwarze Finsterniß.

Schlief sie schon? Und ob sie wohl träumte? Und fror sie nicht im Schlummer? Sennhütten sind ja nur gebaut für den warmen Sommer; handbreite Lücken klaffen oft in den roh gefügten Balkenwänden, und es fährt der Sturm hindurch, zudringlich und kalt. Da wäre wohl der Schläferin ein wärmendes Fell, eine schützende Decke gar willkommen.

Haymo eilte in die Hütte. Das Feuer auf dem Herde war fast erloschen; nur ein dünnes Flämmlein schlug noch aus den zerfallenden Kohlen. Im Herdwinkel hatte sich Walti auf die warmen Steine gestreckt, und im Heubett schnarchte Frater Severin auf dem Wolfsfell und hielt die Lodendecke bis an das Kinn gezogen. Was der gute Frater wohl sagen mochte, wenn Haymo ihn weckte und zu ihm spräche. „Gieb das Fell her und die Decke, die kleine Gittli friert!“

Haymo seufzte, und leise, um die beiden anderen nicht zu wecken, ließ er sich auf den Herdrand nieder. Da sah er, daß der Laufbub die Augen noch offen hatte.

„Walti!“ sprach er ihn flüsternd an. „Nicht wahr, Du kennst alle Leut’ im Klosterdorf?“

„Ja!“ gähnte der Bub.

„Kennst Du eine junge Dirn’ mit Namen Gittli?“

„Wohl wohl,[2] das ist die Müllerstochter am Seebach drunten, ein festes Weibsbild mit blonden Zöpfen, dick wie mein Arm.“

„Nein, die mein’ ich nicht … eine andere!“

„Halt! Ja! Die Krämerdirn’! Haymo, die hat Batzen und kriegt ein Haus. Aber schielen thut sie und einen Buckel hat sie auch! Pfui Teufel!“

„Die mein’ ich auch nicht … eine andere!“

„Eine andere? Gittli? Ich weiß keine mehr!“

„Besinne Dich!“

„Wie soll sie denn ausschauen?“

Haymo neigte sich über den Herd; seine Augen leuchteten, und von seinen Wangen strahlte die Gluth der Kohlen zurück. „Schlank und fein wie ein junges Lärchenstämmlein, flink wie ein Reh, ein Gesichtlein, so weiß wie die Schneerose, und Augen, so schön und tief wie der See.“

Walti glotzte den Jäger an und schüttelte den Kopf. „Nein, die kenn’ ich nicht! So eine giebt’s gar nicht bei uns im Dorf. Die müßt Ihr draußen in Salzburg suchen oder im reichen Hall, in den Herrenhäusern!“ Er ließ sich gähnend zurücksinken in den Winkel, richtete sich aber gleich wieder auf. „Halt! Eine fällt mir noch ein! Ja, die heißt auch Gittli. Aber das ist ja noch gar keine Dirn’! Die ist ja mit mir in die Klosterschul’ gegangen! Ein kleberes[3] Ding! Hat Augen wie eine Wildkatz’ und Haare so schwarz wie des Teufels Großmutter! Die könnt Ihr nicht meinen.“

Haymo lächelte. „Nein, die mein’ ich freilich nicht! Wer ist denn ihr Vater?“

„Sie hat keinen; bei ihrem Bruder haust sie! Das ist einer! Dem geh’ ich aus dem Weg! Neulich, wie die Glocke zum Essen läutete, hab’ ich sein Kind umgerannt. Da hat er mir die Ohren schier aus dem Kopfe gerissen! Der Teufel, der ungute! Es mag ihn aber auch keiner im Dorf. Er ist ein Auswärtiger. Vor zehn Jahren ist er zu uns gekommen, weiß nicht, woher. Drunten im Salzhaus ist er Sudmann, und sein Häusl ist ein Klosterlehen … jaaa!“ Laut gähnend drehte sich Walti auf die Seite.

  1. Benediktbeuern, in der Nähe von Tölz, ehemals eines der reichsten und mächtigsten Klöster, 740 gegründet, 1803 säkularisiert.
  2. Lautet gesprochen: „Wollwoll“ = ja.
  3. Schwächlich, unscheinbar.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_234.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2023)