Seite:Die Gartenlaube (1892) 253.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

für berechtigt halten, welche, der Allgemeinheit der Friedenssehnsucht zum Trotze, bald mehr oder weniger drückend auf den Nationen Europas lastet. –

Von allen den Leidenschaften, Plänen und Gelüsten der Menschenbrust, die trotz der Friedenssehnsucht nicht aufhören, Unfrieden zu säen, ist die gefährlichste der Chauvinismus. Mehr oder weniger ist dieses Unkraut in allen europäischen Staaten emporgewuchert, und neuerdings hat es sogar in Amerika Bürgerrecht erworben. Nirgends aber hat es üppigere Blüthen getrieben als in Frankreich. Es ist kein Zufall, daß däs Wort „Chauvinismus“ französischen Ursprungs ist. Bei unseren westlichen Nachbarn entstand zuerst das Bedürfniß, für eine Charaktereigenschaft ein besonderes Wort zu bilden, zu deren Bezeichnung der Ausdruck „Nationalstolz“ nicht mehr auszureichen schien.

Die Satire, jene mächtige Waffe, die sich meist erst erhebt, wenn der Schaden, den sie bekämpfen soll, sehr tief empfunden wird, hat das Wort „Chauvinismus“ geschaffen. In dem Lustspiel von Scribe „Le soldat laboureur“ ist der Held ein Soldat der Armee Napoleons I., dessen Bewunderung für den Kaiser keine Grenzen kennt und dessen Nationalstolz alle guten Eigenschaften seines Volkes ins Ungemessene übertreibt und für alle schlechten Eigenschaften seiner Landsleute blind ist. Diese nicht eben sehr originelle Bühnengestalt, die schon in der Komödie des griechischen und römischen Alterthums ihr Vorbild hat, konnte nur deshalb in Frankreich so großen Eindruck machen, weil sie eine zur nationalen Eigenschaft gewordene Schwäche geißelte. Der Name des Scribeschen Lustspielhelden ist Chauvin – ein übrigens in Frankreich sehr verbreiteter Name – und nachdem sein Träger im Volksbewußtsein zum Symbol der Eigenschaft geworden war, die er geißeln wollte, wurde aus dem Namen selbst die sprachliche Bezeichnung dieser Eigenschaft abgeleitet.

Heimweh.
Nach einem Gemälde von M. Koch.

Es ist durchaus kein Wunder, daß die verderbliche Eigenschaft, die nun überall mit dem Worte Chauvinismus bezeichnet wird, gerade in Frankreich ein so hervorragender Bestandtheil des Nationalcharakters geworden ist. Kein einziges Volk hat jemals einen so tief in alle Lebensverhältnisse eindringenden Welteinfluß ausgeübt wie das französische. Die Siege Ludwigs XIV. begründeten nicht nur für ein ganzes Jahrhnndert Frankreichs politisches Uebergewicht in Europa; sie trugen auch in alle Länder französische Sitte, französische Kunst, französischen Geschmack. Und mehr als das politische Uebergewicht empfindet der einzelne den Einfluß einer fremden Nation auf diesen Gebieten, weil er sich in allen seinen täglichen Lebensgewohnheiten und in allem, was ihn umgiebt, geltend macht. Und wieder waren es französische Siege, welche die Gedanken der Freiheit und der Menschenrechte über den Rhein und über die Alpen trugen; alle inneren Bewegungen europäischer Staaten in diesem Jahrhundert sind Wellen, die der Sturm der französischen Revolution erzeugt hat.

Nicht immer segensreich ist dieser Einfluß gewesen. Aber er ist unleugbar und nur mit dem Welteinfluß des alten Rom zu vergleichen. Wir begegnen noch heute seinen Spuren in den Rechtsbüchern von ganz Europa und wir empfinden ihn nach in einer noch immer nicht ganz überwundenen Abhängigkeit vom französischen Geschmack. Es ist nur natürlich, daß sich in einem Volke, welches mit so großem Erfolg und so lange Zeit hindurch in alle Verhältnisse anderer Nationen entscheidend eingegriffen hat, das Bewußtsein der Ueberlegenheit unausrottbar befestigt; es ist auch natürlich, daß es für dieses Bewußtsein immer wieder neue Nahrung verlangt, daß es seine Regierungen drängt, beständig Beweise seiner Ueberlegenheit zu geben, und, wenn diese dazu nicht imstande sind, nach Menschen sucht, denen es jene Fähigkeit zutraut, und daß es, wenn dies Bewußtsein durch Thatsachen, durch Niederlagen erschüttert wird, sich selbst belügt und mit Eifer danach strebt, es wieder fest und sicher aufzurichten.

Wer ihm dieses Bewußtsein stärkt, der wird nicht geehrt und gefeiert, nein, der wird vergöttert und angebetet, wie der geniale Feldherr Bonaparte, wie der Dichter Viktor Hugo, wie der redegewaltige Parlamentarier Gambetta. Und aus solchen Gefühlen ist auch die Legende erwachsen, die den General Boulanger länger als ein Jahr hindurch zum gefeiertsten Manne Frankreichs machte. Nur ist diese Legende für die Blindheit des französischen Chauvinismus um so vieles bezeichnender als alle früheren Sagenbildungen, die der erhitzten Phantasie des französischen Volkes entsprangen, weil es nie eine Ueberschätzung gegeben hat, die sich einer nichtigeren, unbedeutenderen Persönlichkeit zuwandte.

Die Geschichte seiner maßlosen Popularität ist nicht zu verstehen, wenn man nicht die Zustände kennt, die im Augenblick seines öffentlichen Auftretens in Frankreich herrschten. An der Spitze des Landes stand Präsident Grevy, der zu schwach war, um zu verhindern, daß sein eignes Haus zum Tummelplatz niedrigsten Streberthums und erbärmlichsten Eigennutzes gemacht wurde. Ein Ministerium leitete die Geschäfte, das in den inneren Kämpfen seine ganze Männlichkeit eingebüßt hatte, weil es sich verpflichtet glaubte, allen Fraktionen der republikanischen Partei genug zu thun. In der Verwaltung herrschte dieselbe Schwäche wie in der Politik. Eine sehr natürliche Unzufriedenheit mit dieser Mißwirthschaft fing an, sich im Lande zu regen, und eine allgemeine Auflehnung des Volkes bereitete sich vor.

Da begann der General Boulanger zuerst die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und es ist nun sehr merkwürdig, wie das Wachsen seines Ansehens gerade durch dieselbe

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 253. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_253.jpg&oldid=- (Version vom 30.6.2020)