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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Verbreitung dieses Gedankens man dem Kriegsminister zuschrieb, beweist jene Abordnung russischer Patrioten, die im Februar 1887 in Paris erschien. Sie überreichte dem General einen Ehrensäbel, auf dessen Klinge die Worte eingraviert waren: „Qui vive? La France et Boulanger!“ Auf der andern Seite der Klinge stand in russischer Sprache: „Wag’s! Gott schützt die Kühnen“; auf dem Bügel: „Au plus digne 1887 la Russie“, „Dem Würdigsten 1887 Rußland“. Was Wunder, daß man bei solchen Vorkommnissen im In- und Auslande die Nachricht eines antiboulangistischen Blattes glaubte, das behauptete, Boulanger habe einen Brief an den Czaren geschrieben?

Die wirksamste Unterstützung fand diese Idee des russisch-französischen Bündnisses bei der Patriotenliga. Diese Patriotenliga war[1] ein bald nach dem Kriege von 1870 entstandener, über ganz Frankreich verbreiteter Verein, der es sich zur Aufgabe machte, den Durst nach Rache für Sedan und die Sehnsucht nach den „geraubten Provinzen“ im französischen Volke aufrecht zu erhalten. An ihrer Spitze stand eine der seltsamsten Erscheinungen des modernen Frankreich, der Dichter Paul Deroulède. Es ist keine Uebertreibung, wenn man ihn die Verkörperung des französischen Chauvinismus nennt. Durch seine im Jahre 1872 erschienenen „Soldatenlieder“, die in zehn Jahren einundneunzig Auflagen erlebten, hatte er sich in Frankreich bekannt gemacht. Diese Lieder zeugen von einem nicht gewöhnlichen Talent, athmen glühende Vaterlandsliebe und fanatischen Preußenhaß und bringen jene maßlose Selbstüberschätzung zum Ausdruck, welche die unfehlbare Begleiterscheinung des Chauvinismus ist. Keine Persönlichkeit schien geeigneter, an der Spitze einer Vereinigung zu stehen, die sich für berufen hielt, dem Chauvinismus immer neue Nahrung zuzuführen.

Trotzdem hab’ ich mich nie einer gewissen Rührung enthalten können, wenn ich am französischen Nationalfest diesen Apostel der Revanche in seinem langen grünen Ueberzieher, mit dem langen, ganz altmodischen Cylinder auf dem Kopfe und in den langen Armen – alles ist lang an diesem Menschen – einen Riesenkranz haltend, an der Spitze der Liga über die Boulevards schreiten sah, als ob er mit einem Trauergefolge hinter einem Leichenwagen herschritte. Es lag so viel ehrlicher Schmerz in seinem Gesicht, in seiner ganzen Haltung, daß die Sympathie für die Persönlichkeit fast die Verwerflichkeit seiner Bestrebungen für Augenblicke vergessen ließ. Stumm legte er dann – da die Regierung jede Rede streng untersagte – seinen Kranz vor der mit Flor umhüllten Statue von Straßburg auf dem Eintrachtsplatz nieder, und Kränze häuften sich auf Kränze, bis das Postament der Statue aussah wie ein geschmücktes Grab.

Es war natürlich, daß eine so beschaffene Vereinigung mit solchem Führer zum Bundesgenossen des Boulangismus werden mußte. In ungeheurer Verblendung über die strategischen Fähigkeiten des Generals hatte Deroulède in einer Sitzung der Liga die bezeichnenden Worte ausgesprochen: „Mit einem solchen General an der Spitze wird unsere Armee siegreich ohne Bündnisse gegen die ganze Welt kämpfen.“ Dennoch wurde er der eifrigste Agitator für das unnatürlichste Bündniß, das je zwischen zwei Mächten zustande gekommen ist.

Boulanger als Vogelscheuche.
Nach einer französischen Karikatur.

Trotzdem damals die Wogen des Boulangismus, vom Sturme der Revanche-Idee bewegt, so hoch gingen, darf man nicht glauben, daß die Bevölkerung des ganzen Landes steuerlos auf ihnen trieb. In Deutschland hatte man natürlich das Anwachsen der chauvinistischen Bewegung mit wachsamen Blicken verfolgt. Und als im Januar 1887 der Streit um das Septennat entbrannte und ein Wahlkampf von beispielloser Heftigkeit durch das ganze Reich tobte, da konnte es nicht ausbleiben, daß der General Boulanger in den Reden und Schriften der Septennatsfreunde eine wichtige Rolle spielte.

Die Rückwirkung dieser deutschen Agitation auf die Stimmung in Frankreich äußerte sich nach zwei verschiedenen Richtungen hin. Die besonnenen Republikaner wurden immer mehr zu der Ueberzeugung gedrängt, daß Boulanger die größten Gefahren für das Land heraufbeschwören würde, und ein wahrer Sturm der republikanischen Blätter gemäßigter Richtung erhob sich gerade in diesen Monaten gegen den Kriegsminister. In keinem Lande ist dieser General durch Zeitungsartikel, durch Karikaturen und durch Flugblätter so lächerlich gemacht, mit so grimmigem Spotte überhäuft worden wie in seinem eignen.

Die andre Wirkung der deutschen Agitation war aber die, daß die Radikalen ein Mittel gewannen, den so hart angegriffenen General als ein Opfer des Fürsten Bismarck hinzustellen.

Je heftiger jedoch die Sprache der radikalen Blätter wurde, desto heftiger wurden auch die Angriffe der monarchistischen und der gemäßigten Presse. Als die Boulangisten die Wahlen im Elsaß vom 21. Februar 1887, aus denen die Protestler als Sieger hervorgingen, mit Jubel begrüßten und die Statue von Straßburg mit Flaggen schmückten, verurtheilte die gesammte gemäßigte Presse dieses hetzerische gefährliche Treiben; und als endlich am 20. Mai das Ministerium Goblet gestürzt wurde, gab es in Paris einundzwanzig Blätter, die für, und zweiundzwanzig, die gegen das Verbleiben Boulangers im Ministerium eintraten. Bis in die Reihen der Patriotenliga hinein übte der Boulangismus seine zersetzende Macht. Am Ende des Juli spaltete sich diese, und die Gemäßigteren ernannten Delmans zu ihrem Präsidenten.

So hatte die wahnsinnige Uebertreibung des Chauvinismus eine Reaktion hervorgerufen, die der Giftpflanze des Boulangismus bald ein Ende bereitete. Der tolle Abschied, welchen 25 000 Pariser dem General bei seiner Abreise nach Clermont-Ferrand – er sollte dort das dreizehnte Armeecorps kommandieren – auf dem Lyoner Bahnhof bereiteten, war das Grabgeläute für alles das, was chauvinistisch an dieser Bewegung war. Die traurige Rolle, die der gestürzte Kriegsminister dann später als entlassener General und Politiker spielte, hat nur noch sehr wenig mit dem Chauvinismus zu thun. Boulanger hat vielmehr in allen den zahlreichen Reden und Kundgebungen, mit welchen er sein Vaterland noch anderthalb Jahre lang beunruhigte, fast nie versäumt, zu versichern, daß er den Frieden wolle. Mit richtigem Instinkt hat er herausgefühlt, daß ohne diese Versicherungen irgend welche Wahlerfolge in den industriellen Bezirken des Departements Nord und den ackerbautreibenden Distrikten des südlichen Frankreichs gleich unmöglich sein würden. Denn er wußte, daß die große Masse des französischen Volkes wohl gern einmal den Säbel rasseln hört, aber doch zu verständig ist, um ihn im Rausche der patriotischen Phrase zu ziehen. Die Wahlsiege Boulangers sind der Ausdruck der Unzufriedenheit gewesen, die weit im Lande verbreitet war und in den Enthüllungen der Presse über den Ordensschacherer General Cassarel und Wilson, den Schwiegersohn des Präsidenten Grévy, eine triftige Begründung zu finden schien. Es liegt deshalb außerhalb der Grenzen unsres Themas, dem General Boulanger nach Clermont-Ferrand zu folgen und ihn bei seinen politischen Umtrieben zu beobachten. Es ist bekannt, wie er, wegen Disciplinlosigkeit gemaßregelt und endlich aus der Armee gestoßen, sich als Kandidat bei allen Ersatzwahlen mit einem Programm aufstellen ließ, in welchem die Reform der Verfassung der Angelpunkt war, eine Reform, welche die Wiedergeburt des Cäsarismus ohne Zweifel zur Folge gehabt hätte, wenn sie hätte verwirklicht werden können. Seine schmähliche Flucht aus Paris in dem Augenblick, wo sich ihm die Gelegenheit geboten hätte, zum Märtyrer seiner Ueberzeugung zu werden, hatte schon die meisten seiner ehemaligen Verehrer darüber aufgeklärt, daß in der Brust dieses Mannes nicht die heilige Flamme der Begeisterung

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verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_256.jpg&oldid=- (Version vom 13.8.2023)
  1. Ich sage „war“, weil sie auf Antrag des Ministeriums Tirard am 11. März 1889 aufgelöst wurde.