Seite:Die Gartenlaube (1892) 282.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

verzweifelte sie völlig beim Gedanken an die endlosen Abende in dem frostigen Hause, wo der ungeliebte Mann an ihrer Seite sitzen würde und sie ihr müdes Gehirn anstrengen müßte, um irgend eine Unterhaltung zu ersinnen.

*      *      *

In den ersten Tagen des November sollte die Vermählung der Gräfin Lindström mit dem Baron Leblanc stattfinden. Ende Oktober war Bettina eines Morgens nach Groß-Küstrow hinübergesegelt, um allerlei Vorräthe einzukaufen. Schwer bepackt schritt sie gerade über die Fahrstraße zu ihrem Boote zurück, als dicht hinter ihr Pferdegetrappel vernehmbar wurde. Zur Seite tretend, wandte sie sich nach dem herankommenden Wagen um und bemerkte zu ihrem Schrecken, daß ihre Stiefmutter und Graf Trachberg die Insassen waren. Die Blicke der ersteren waren achtlos über die Fußgängerin hingeglitten, im Gesicht des Grafen aber blitzte es auf. Bettina sah, daß er sie erkannte, und scheu kehrte sie sich ab, bis die Kutsche vorbeigerollt war.

Zwei Tage später, als Bettina eben den Kindern des Lotsenkommandanten Klavierunterricht ertheilte, wurde die Thür zum Salon weit aufgerissen und die Hausfrau führte Gäste herein. Bettina erhob sich rasch, aber beim Anblick der Eintretenden erschrak sie so heftig, daß sie sich auf das Klavier stützen mußte, welches sie hatte verlassen wollen. Die Gräfin Lindström war gekommen, um dem Kommandanten und dessen Gattin ihren Verlobten sowie ihre Gäste, den Grafen und die Gräfin Trachberg, vorzustellen. Die Schloßherrin begrüßte Bettina sehr herzlich, theilte ihr mit, daß auch Rott am nächsten Tage eintreffen werde, um an der Hochzeit theilzunehmen, und stellte ihr den Baron Leblanc vor. Ehe die Ueberraschte sich von ihrer Bestürzung erholt hatte, stand sie schon den Trachbergs gegenüber. Graf Guido stotterte erröthend einige unverständliche Worte zur Begrüßung, Rosita aber ergriff Bettinas Arm und führte sie zu einer Fensternische.

„Fürchte nicht, daß ich hierher gekommen bin, um Dir Vorwürfe zu machen,“ sagte sie flüsternd. „Dein Aussehen beweist mir, wie schwer Du die Verblendung hast büßen müssen. Ich bin nicht unversöhnlich und begreife das bittere Gefühl, welches Dich in diesem Augenblick beherrscht. Du hast die schwere Kränkung, welche mein Gatte Dir bereitete, noch nicht verwunden. Vielleicht wird es Dir eine kleine Genugthuung gewähren, wenn ich Dir gestehe. auch ich bin an seiner Seite nicht so glücklich geworden, wie ich es erwarten durfte. Ach, der Gatte ist immer ein ganz andrer als der Verlobte. Aber ein Verlangen ist mir wenigstens an Guidos Seite erfüllt worden. In den Kreisen seiner Standesgenossen habe ich mir eine Stellung errungen, auf die ich stolz sein darf. Um so mehr bedauere ich Dich, daß Du von alledem abgeschlossen bist, alles entbehren mußt, was das Leben schön und begehrenswerth macht. Giebt es denn kein Mittel, Dich wieder zu befreien? Habe Vertrauen und offenbare mir Deine Lage! Du weißt, wie gern ich Dir immer beistand, wenn es in meiner Macht lag. Sprich, mein Herz!“ Sie bot ihr freundlich die Hand, allein ihre Erwartung, daß die blasse, junge Frau nun in Klagen ausbrechen und rasch die dargebotene Hilfe annehmen werde, erfüllte sich nicht.

„Ich danke Dir,“ entgegnete Bettina ruhig, „danke Dir herzlich, liebe Mama – Du gestattest doch, daß ich Dich noch so nenne? Aber was mir das Schicksal auferlegt hat, das muß ich allein tragen. Du kannst mir so wenig helfen wie irgend ein andrer Mensch auf dieser Welt. Auch entbehre ich das nicht, was Dich beglückt.“

Sie kehrten beide zur Gesellschaft zurück, wo die Hausfrau eben Bettinas Vorzuge als Lehrerin gerühmt hatte.

„Zu meiner Freude erfahre ich, daß Sie Ihr musikalisches Talent nicht verkümmern lassen,“ rief Gräfin Lindström, sich Bettina zuwendend. „Ich wünschte, mein Verlobter könnte Sie singen hören – der Verwöhnte würde erkennen, daß wir hier an der See nicht ganz in Wildniß leben. Bitte, bitte, ein Lied!“

Der Gräfin schlossen sich so viele Stimmen an, daß Bettina dem Drängen Folge leisten mußte, obgleich sie am liebsten geflohen wäre. Sie wollte nicht schwach ober launenhaft scheinen, und so setzte sie sich ans Klavier und begann ein Lied von Brahms. Aber sie vermochte ihre Aufregung nicht zu bezwingen, nur ein Zerrbild dessen kam zum Vorschein, was sie geben wollte.

Mit einer Dissonanz brach sie ab und rief erregt: „Ich kann nicht mehr singen, Frau Gräfin. Auf der Düne von Massow erstirbt jede Blume, vor allem die der Poesie.“

Der letzte Satz sollte scherzhaft klingen, allein die Bitterkeit des Tones brach dennoch durch.

Als sie sich verabschieden wollte, erhoben sich auch die Gäste, um sich zur Landungsstelle des Boots zu begeben. Unterwegs wußte es Graf Guido so einzurichten, daß er an Bettinas Seite kam, während die Damen und der Baron in lebhafter Unterhaltung voranschritten. Er legte seine Hand auf den Arm der Begleiterin und flüsterte ihr zu: „Sie sind unglücklich geworden, Bettina; Ihr abgehärmtes Gesicht, Ihr Gesang ließ mich ahnen, was Sie gelitten haben. Ich beklage Ihr verfehltes Leben und würde viel darum geben, wenn sich das wieder gut machen ließe, was ich, unter dem Drucke widriger Verhältnisse, an Ihrem Herzen gefrevelt habe. Wenn Sie je meiner Hilfe bedürfen –“

„So werde ich mich selbstverständlich an meinen Stiefpapa wenden,“ erwiderte sie mit leichtem Spotte und entzog ihm ihren Arm. „Ihre väterliche Güte thut mir wohl, aber halten Sie sich versichert, daß Sie sich über die Quelle meines Unglücks täuschen. Das, was Sie an meinem Herzen frevelten, ist längst vergeben und vergessen.“

Sie war am Seitenweg zur Klause angekommen und verabschiedete sich von ihren Begleitern. Hastig legte sie die kurze Strecke bis zu ihrem Hause zurück; von den Erlebnissen der letzten Stunde im Innersten erregt, trat sie auf die Veranda; müde ließ sie ihren Blick über die Küste schweifen – sie sah, wie Gräfin Lindström mit ihren Gästen ihr Boot bestieg, das sich langsam in Bewegung setzte. Die sinkende Herbstsonne vergoldete das Fahrzeug, als es mit geschwellten Segeln über die leuchtende Fluth glitt. Bettina bemerkte, wie Frau Rosita noch zu dem einsamen Landhaus herüberblickte und den Kopf schüttelte.

„Ja, ja,“ sagte sie mit bitterem Lächeln und faltete die Hände, „die Gräfin Trachberg kann freilich das Räthsel meines Daseins nicht fassen. Sie weiß die Segel klug zu stellen und wähnt sich auf glücklicher Fahrt. Aber wir treiben alle dem uferlosen Meere des Vergessens entgegen, das ist ihre Furcht und – mein Trost.“




19.

Die Hochzeitsfeierlichkeiten auf Schloß Lindström waren verrauscht, die Neuvermählten nach dem Süden abgereist; auch die Mehrzahl der Gäste war zugleich mit ihnen aufgebrochen. Nur einige Jagdliebhaber blieben zurück, welchen der alte Baron Leblanc, der Schwiegervater der Gräfin, allerlei Sport in Aussicht gestellt hatte, und – Franz Rott. Ihn hielten Erinnerung und Sehnsucht wie mit Zauberfesseln an der einsamen Küste fest.

Weder die Künstlerfahrt nach England noch der Jubel des Hochzeitsfestes hatte seine Gefühle für die geliebte Frau zum Schweigen bringen können. Einsam streifte er durch die herbstlichen Wälder, er suchte die Stellen wieder auf, wo er mit Bettina geträumt und geplaudert hatte. Aber wie verwandelt war alles – dahin der Sommer, fahles Laub raschelte unter seinen Füßen, kein warmer Sonnenschein, nur düsterer Nebel und rauher Herbststurm! Das Leben erstorben, erstorben auch sein Glück! – –

Am letzten Tage, den er auf Schloß Lindström zu verweilen gedachte, wurde er früh durch den Lärm der aufbrechenden Jagdgesellschaft aus dem Schlafe geweckt. In der Nacht hatte ein wilder Sturm gerast, und obgleich es noch heftig stürmte, so begaben sich die Herren doch mehrere Stunden landeinwärts, wo in den wildreichen Forsten ein Kesseltreiben stattfinden sollte. Als Rott das Speisezimmer betrat, war es leer, und er mußte sein Frühstück allein verzehren. Der Diener, welcher ihm aufwartete, trat ans Fenster und sagte. „Das war ein grausiger Sturm heute nacht. Haben der Herr Rott das Brausen gehört? Vor Massow soll ein Vollschiff gestrandet sein – so behauptet wenigstens der Gärtner Jakob – ich kann aber nichts sehen, es ist noch nicht hell genug. Wenn das Schiff auf die verflixte Seehundsbank gerathen ist, dann Gnade Gott der Bemannung! Bei dem Sturme können die Lotsen mit dem Rettungsboot nicht hinaus, und die Wogen schlagen alles in Stücke, denn der Wind steht just auf dem Höwt.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_282.jpg&oldid=- (Version vom 14.4.2019)