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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Erfahrung und Kraft vermochte den Zusammenprall zu vermeiden oder zu mildern. Schon sah Bettina, wie die Gestrandeten sich alle auf einem Punkte des Verdecks zusammendrängten, da ertonte auf der Düne der Schreckensruf des wetterkundigen Gehring: „De Hagelstorm geiht los![“]

Ein Aufschrei der Umstehenden folgte dieser Ankündigung. Bettina blickte entsetzt zum Himmel auf und merkte an der fast schwarzen Wolke, welche von Südost heraufkam, und an den knatternden Windstößen, die ihr voraufgingen, daß etwas Schreckliches im Anzug sei. In der nächsten Minute brauste ein Wirbelsturm daher, der das Schiff in Trümmer schlagen mußte. All ihre Kraft zusammennehmend, setzte Bettina das Glas nochmals an die Augen und suchte die über die See sich breitende Verfinsterung zu durchdringen. Sie erblickte zunächst nur eine hoch aufwirbelnde Schaummasse bei dem Schoner – es war, als ob das Wasser zischend einem Vulkan entsteige; dann schien es ihr, als wenn die Männer im Boote sich an das Fallreep des Schiffes klammerten, und dann fuhr etwas Weißes durchs Dunkel – im nächsten Augenblick peitschte der Sturm das Gesicht der Erschöpften mit einem Schauer von Hagelkörnern, daß sie betäubt in die Knie sank und Schutz suchend die Stirn zur Erde senkte.

Auf die heulenden Windstöße und den Hagel folgte ein Gewitterregen, der das Lotsendorf zu ertränken drohte. Mühsam erhob sich Bettina; der Kopf schmerzte sie, schwer hingen die triefenden Kleider an ihrem Körper. Obgleich sie sich kaum aufrecht erhalten konnte, zwang sie sich doch, alle Vorgänge auf dem Meere genau zu beobachten. Aber bei dem niederfluthenden Regen- gusse war es unmoglich, etwas Genaueres zu sehen, ein grauer Vorhang lag über dem Schauplatz der Katastrophe.

Eine Viertelstunde verzehrender Erwartung verging – endlich ließ der Regen nach; die Wolken lichteten sich und es wurde hell über der See. Kreischend verkündeten die jungen Massower, daß das Boot noch schwimme und auf der Rückfahrt begriffen sei.

Bettina trocknete hastig die Gläser ihres Fernrohrs und suchte das Boot; dabei fielen ihre Blicke zuerst auf die Seehundsbank. Von dem stolzen Schoner war nichts mehr übrig als ein Wrack. Nur das Heck ragte noch über die Wogen, die jetzt die Schiffstrümmer dem Strande zutrugen. So hatte Rott doch recht gehabt, als er vor dem Abwarten des Hagelsturms warnte! Aber wie mochte sich die Entscheidung vollzogen haben? Wer war gerettet, wer vom Meere verschlungen worden? – Bei diesen Fragen überlief Bettina ein kalter Schauer – sie zitterte vor der Möglichkeit, daß ihr Gatte das Opfer seiner kühnen Rettungsthat geworden sein könnte. Mochte er immerhin schwer gegen sie gefehlt haben – in dieser Stunde, in der er sein Leben einsetzte für die Bedrohten, erschien ihr alles, was er ihr zugefügt hatte, so nichtig und klein. Das leidenschaftliche Verlangen nach Freiheit, in dem sie sich zu verzehren drohte, verstummte; nur noch die Angst, ob Ewald nicht draußen sein Grab gefunden, hatte Raum in ihrer Seele. Und nun übermannte sie die Erregung – ein dunkler Schleier legte sich über ihre Augen, sie vermochte nichts mehr zu sehen. Mit einer unsichern Bewegung tastete sie sich zu einem Felsblock und ließ sich darauf nieder. Dann schloß sie die Augen. So saß sie einer Ohnmacht nahe da, mit geschlossenen Lidern, den Kopf auf die Hände gestützt, als plötzlich vom Walle her der bange Aufschrei der alten Monk ertönte: „Min Gott, min Gott, wo is denn uns’ Ewald?“

Unfähig, sich zu erheben, schaute sie zitternd auf das Boot, welches sich dem Strande schon bedeutend genähert hatte, und sah, daß ein andrer Lotse als Ewald das Steuer führte; ein zweiter Blick überzeugte sie, daß sich ihr Mann auch nicht unter den übrigen Insassen des Bootes befand. Mit einem gellen Schrei sprang sie auf und brach sich Bahn durch die lärmende Menschenmenge, welche sich dicht um die Landungsstelle herdrängte. Als sie endlich die vorderste Reihe erreicht hatte, ward das Boot eben auf den Strand gezogen; die Insassen sprangen heraus, nur Rott blieb zurück, knieend über einen regungslosen Körper gebeugt, der lang ausgestreckt mitten im Boote lag. Bettina beugte sich hastig über den Rand des Fahrzeugs und prallte in wortlosem Entsetzen zurück. Sie hatte in das blutüberströmte Antlitz ihres Mannes gesehen – es war das eines Sterbenden. Mit starren, gläsernen Augen lag er da, ohne ein Lebenszeichen zu geben, und erst, als ein halbes Dutzend starker Männer ins Boot sprang und ihn emporhob, kam ein dumpfes Stöhnen aus seiner Brust. Man trug ihn zur Düne hinauf, breitete Segel über die Erde und legte ihn auf dies Sterbebett nieder. Während das geschah, trat Rott zu der wankenden Bettina, und indem er ihr den Arm zur Stütze bot, flüsterte er ihr leise zu: „Fassung, mein Herz, Fassung!“

Sie raffte sich gewaltsam auf; wie das Unglück geschehen sei, fragte sie tonlos. Rott berichtete in fliegender Hast, Ewald habe mit bewundernswerthem Geschick das Rettungsboot so beigedreht, daß zwei von den Ruderern das vom Schoner ausgeworfene Seil hätten erhaschen können. „Während wir nun mit dem Aufgebot unsrer ganzen Kraft das Boot durch Taue an das Schiff fesselten, schwang sich Ewald als erster aufs Verdeck. Hier drängten sich die Matrosen, welche jeden Augenblick den Untergang erwarteten, mit wildem Ungestüm an ihm vorüber und sprangen ins Boot; zwei stürzten ins Meer und ertranken. Zurück blieb nur der Kapitän des Schiffs mit Kind und Frau. Ewald nahm das Kind auf den linken Arm und half dem Kapitän die ohnmächtig gewordene Frau nach der Schiffstreppe schleppen. Doch noch ehe sie diese erreicht hatten, brach der Orkan los – ein furchtbarer Schlag, ein Krach, und Ewald fiel über Deck, schlug mit dem Rücken auf die Kante des Rettungsbootes und sank mit dem Kinde, das er krampfhaft umschlungen hielt, ins Meer. Es gelang uns, ihn zu erhaschen und sammt dem Kinde ins Boot zu ziehen. Droben war der Mast gebrochen, hatte im Sturze den Kapitän und sein Weib erschlagen und Ewald so wuchtig am Hinterkopf und an der rechten Schulter getroffen, daß er betäubt über Bord geschleudert worden war. Seltsamerweise blieb das Kind in seinem Arme unversehrt. Nun hingen wir angstvoll an der Leeseite des sinkenden Schiffes, bis die erste Gewalt des Hagelsturms gebrochen war; dann wagten wir die Rückfahrt, und sie gelang; elf Menschen sind gerettet worden –“

„Erkauft mit Ewalds Blut!“ rief Bettina schaudernd. Sie trat an die Seite des Sterbenden und kniete, in Thränen ausbrechend, neben ihm nieder. Rott wollte ihr folgen, aber die alte Monk sprang mit wüthender Gebärde auf und kreischte ihm zu: „He hätt min Sahn up sin Gewissen!“

Bei diesem Aufschrei der verzweifelten Alten kehrte ein matter Strahl des Lebens in Ewalds Augen zurück. Erwachend sah er erst in das erregte Gesicht der Mutter, dann zu Rott hinüber und flüsterte. „Lat man, Mudding, he is ’n braven Kirl!“

Sein Blick fiel auf die schluchzende Bettina, und wie ein letzter Schimmer der Freude ging es über sein fahles, verwüstetes Antlitz. „Wo ist das Kind?“ fragte er. Pischel brachte den blondhaarigen, blauäugigen Buben. Er betrachtete den Kleinen lange und fragte dann leise, ob des Kindes Eltern gerettet seien. Man berichtete ihm, daß der fallende Mast beide erschlagen habe.

„Betty,“ sagte er, und seine Stimme war wie ein letzter Hauch, „nimm Du ihn zu Dir ... für unser Kind ...“

Er kam nicht weiter; sein Auge wurde starr, ein Zucken ging durch den athletischen Körper – Ewald Monk war verschieden.

Seine Eltern brachen in laute Klagen aus; Bettina wollte sich erheben, um ihnen ein Wort des Trostes zu sagen, allein plötzlich verwischte sich alles um sie her, sie schwankte und wäre zur Erde gestürzt, wenn Rott nicht seine Arme um sie geschlungen hätte. Mit Hilfe des Lehrers brachte er die Bewußtlose nach der Klause, wohin auch das verwaiste Kind geführt wurde; der Zustand Bettinas, die kein Lebenszeichen von sich gab, erfüllte ihn mit qualvoller Sorge; trotz seiner Ermattung warf er sich daher aufs Pferd, um den Kreisphysikus herbeizuholen.

Als dieser am Abend mit Rott die Klause betrat, hatte sich bei Bettina bereits hohes Fieber eingestellt. Der Arzt beobachtete die Kranke eine Weile, strich ihr über das glühende Gesicht, prüfte ihren Puls und sagte dann zu dem Künstler, welcher in ängstlicher Spannung jede seiner Bewegungen verfolgt hatte: „Nervenfieber in der heftigsten Form. Es muß alles für eine gute Pflege der Kranken geschehen, sonst stehe ich für nichts. Der Obhut der alten Monks können wir sie unmöglich überlassen.“

„Wissen Sie nicht in der Nähe eine beständige Krankenpflegerin, Doktor? Ich würde jeden Preis zahlen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_284.jpg&oldid=- (Version vom 10.6.2020)