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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Gewiß, ich kann eine Frau Braun aus der Kreisstadt herübersenden, der wir die Wartung getrost anvertrauen dürfen. Aber ich hätte gern noch jemand, welcher der Kranken nahestünde und für all das sorgte, was nur warme persönliche Antheilnahme bemerkt –“

„Das soll meine Aufgabe sein, lieber Doktor," unterbrach ihn Rott erröthend. „Ich verlasse das Haus nicht eher, als bis ich dem Tod diese Beute abgejagt habe.“




20.

Rott, der dem Sturme so kühn getrotzt hatte, sah am Krankenlager der Geliebten ein, daß es schwerer ist, sich selber zu bezwingen als die entfesselten Elemente. Oft glaubte er, an Bettinas Rettung verzweifeln zu müssen, und dann bedurfte er aller Kraft, um ruhig auszuharren, nicht in wilden Groll auszubrechen. Eine treffliche Stütze fand er glücklicherweise an der Pflegerin, welche ihm der Doktor geschickt hatte. Frau Braun sorgte nicht nur für die Leidende, sondern versah auch den Haushalt, so daß Rott das verwaiste Kind, welches er im Schulhaus untergebracht hatte, zu sich in die Klause nehmen konnte. Er forschte nach den Verwandten des verunglückten Kapitäns und erfuhr, daß nur ein Bruder der Frau in Stettin lebe; der aber war selber so reichlich mit Kindern gesegnet, daß er gern auf Rotts Bitte einging, ihm den kleinen Fritz zur Erziehung zu überlassen.

Den Monks hatte Rott sein Versprechen gehalten und ihnen gleich nach Ewalds Bestattung durch den Lotsenkommandanten tausend Mark einhändigen lassen mit dem Bemerken, daß sie in jeder Nothlage auf ihn zählen dürften. Diese That gewann ihm vollends das Herz der Dorfbewohner, überall bezeigte man ihm aufrichtige Theilnahme und hilfreiches Entgegenkommen, und sogar Kathrein Bräuning erbot sich zu kleinen Dienstleistungen in der Klause.

Zum Glück hatte Rott Ersparnisse gemacht; so konnte er nicht allein die Kosten des Haushalts bestreiten, sondern sich auch als Künstler von allen Vertragspflichten lösen, die er für den Rest des Jahres eingegangen hatte. Er hatte gehofft, Bettina werde vor Ablauf dieser Zeit wieder genesen sein, aber seine heißen Wünsche erfüllten sich nicht. Nach Tagen banger Erwartung ging zwar die Krisis glücklich vorüber, allein der Körper der Kranken war so geschwächt, daß wochenlang die gesunkenen Kräfte sich nicht wieder heben wollten. Endlich, als schon der ewige Wechsel von Hoffnung und Verzweiflung auch Rotts Gesundheit zu untergraben drohte, begann die Besserung, und während des Weihnachtsfestes konnte Bettina zum ersten Male ihr Lager verlassen. Von Rott und dem Arzte wurde sie in den Salon getragen, wo man sie sanft auf einen Sessel niederließ. Die beiden nahmen ihr gegenüber Platz, und nachdem der Arzt die Genesende, die sich mit sichtlichem Behagen an der Unterhaltung betheiligte, eine Weile beobachtet hatte, erklärte er in munterem Tone jede Gefahr für überwunden. Rott sprang stürmisch auf, umarmte den Ueberraschten und sank dann vor Bettina nieder. „Nun hab’ ich ein Anrecht auf Deinen Besitz, nun bist Du mein für immer!" rief er bewegt.

Und Bettina beugte sich mit verklärtem Lächeln zu ihm nieder. „Dir verdanke ich meine Rettung – wem sollte ich dies neugewonnene Leben lieber schenken als Dir, Franz!“ flüsterte sie und küßte ihn auf die Stirne.

In diesem Augenblick rief eine Kinderstimme von der Schwelle zum Nebenzimmer her. „Papa, Papa!“ und Fritz machte sich von der Hand der Wärterin los, um in Rotts Arme zu eilen. Dieser küßte den kleinen Blondkopf und stellte ihn vor Bettina hin. „Ewalds Erbe und unser Sohn, nicht wahr, Liebste?“ sagte er mit einem hellen Leuchten in seinen männlichen Zügen.

Bettina umschlang den Hals des Kindes und sah es schweigend mit feuchtschimmernden Augen an; der Friede war eingezogen in ihre Seele, jener Friede, der das Herz so übervoll und dennoch den Mund verstummen macht.

Und mit dem Frieden zog das Glück in die Klause ein. Die zärtliche Sorgfalt Rotts, das muntere Lachen des Kindes, die freundlichen Bemühungen der Wärterin, das Haus behaglich zu machen – alles das erquickte Bettina aus tiefstem Grunde und förderte zugleich ihre Genesung. Die Erinnerung an Ewalds Tod trat mehr und mehr zurück und bedrückte ihr Herz nicht mehr, sie gab ihrem ganzen Weseu nur einen ernsteren Halt.

Als sie eines Abends mit Rott vor dem Kaminfeuer saß und ihm gestand, wie schwer sie in Massow gerade die künstlerische Anregung entbehrt habe, kam das Gespräch nochmals auf die inneren Kämpfe, die sie zur Flucht aus den gewohnten Verhältnissen getrieben hatten. Bettina erinnerte sich dabei an das Tagebuch ihres Vaters, sie ließ es sich vom Schreibtisch holen und händigte es Rott ein. „Lies diese Schilderungen,“ sprach sie erröthend, „und Du wirst es nicht verwunderlich finden, daß sie mich gefangen nehmen mußten in einem Augenblick, wo die gesellschaftliche Welt, in der ich lebte, mir nichts als Enttäuschung und Lüge bot. So bin ich geflohen, um hier das Glück zu suchen in der Natur, bei einfachen ursprünglichen Menschen – ich weiß jetzt, daß es ein Irrthum, aber – urtheile selbst, ob es nicht ein sehr begreiflicher war."

Am nächsten Abend schon legte Rott das Tagebnch in Bettinas Hand zurück, und als sie ihn erwartungsvoll anblickte, strich er ihr sanft über das weiche Haar und sagte: „Das Glück ließ Deinen Vater im schönsten Lebensalter eine verlockende Idylle mitten im Weltmeer finden, aber Du hast eines dabei übersehen, Bettina: es war nicht das verlorene Naturparadies, nach welchem sich Dein Vater im Alter zurücksehnte, sondern der Zauber der Jugend und der Liebe. Wir finden die Bedingungen des Glückes nur in uns selbst, allein wir sind so oft geneigt, sie draußen zu suchen, und der Erfolg ist, daß wir Enttäuschung auf Enttäuschung erleben und dann verbittert in die Einsamkeit fliehen. Und gerade dadurch steigern wir nur unser Elend, denn ‚wer sich der Einsamkeit ergiebt, ist bald allein‘.“

„Nun,“ sagte sie lächelnd und ergriff seine Hand, „ich bin in der Einsamkeit doch nicht ganz vereinsamt – das Beste ist mir geblieben.“

Sie sahen sich mit glückstrahlenden Augen an und begannen, mit fast kindlichem Eifer Pläne für die Zukunft zu entwerfen. Anfangs Januar wollte Rott Massow auf mehrere Monate verlassen, um gemeinsam mit Diaz und einer berühmten Pianistin eine Konzertreise durch Spanien auszuführen. „Aber dies wird die letzte Trennung sein, die wir zu überwinden haben,“ sagte er tröstend, „im Herbst schon hat mein Vagabundenleben ein Ende. In Berlin bauen wir unser Nest, dort will ich in ehrbarster Seßhaftigkeit, wie sie einem Ehemann ansteht, als Lehrer thätig sein; und wenn ich Konzertreisen unternehme, dann thu’ ich’s nur gemeinschaftlich mit Dir, mein Herz.“

„Ach, wenn nur dieser Winter erst hinter uns liegen würde!"

„Damit Du Dich nicht gar so einsam fühlst, habe ich Dir eine Überraschung bereitet.“

„Und welche, Franz?“

„Ich werde mich hüten, es Dir zu verrathen! Aber morgen sollst Du eine kleine Freude erleben.“

Es wurde eine große daraus, denn am nächsten Tage kam ein hochbepackter Schlitten aus Groß-Küstrow herüber und hielt vor der Klause. Bettina, welche eben am Erkerfenster saß und dem kleinen Fritz Papierpuppen ausschnitt, sah zu ihrer Verwunderung, daß Rott sofort auf den Schlitten zulief und einer durch Pelze und Shawls völlig unkenntlichen Frau sowie zwei Kindern aus dem Gefährt half. Auch Frau Braun eilte durch den Schnee und war um die Fremde geschäftig.

Bettina wollte sich aus dem Sessel erheben, allein noch reichte ihre Kraft dazu nicht aus. Hilflos starrte sie auf die Thür, vor der sie rasche Tritte vernahm. In der nächsten Minute sprang diese weit auf und mit dem Ausruf: „Bettina, liebste Bettina!" flog Lisa ihr entgegen.

Es war die alte Freundin mit all ihrer früheren Munterkeit. Sie küßte Bettina unter Lachen und Weinen immer und immer wieder. „Ich weiß, was Du gelitten hast,“ sagte sie, „Rott hat mir alles geschrieben. Du siehst noch bleich aus, mein Kind, schrecklich bleich, aber das soll anders werden. Lachen mußt Du mir, fröhlich sein, bis Deine Backen kirschrot werden.“

„O, Du siehst, Lisa, ich lache schon jetzt, so froh macht mich Dein Anblick. Und das sind Deine Kinder? Ach, das ist herrlich, nun hat unser Junge Gespielen!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_286.jpg&oldid=- (Version vom 10.6.2020)