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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

drückte stöhnend sein Gesicht in ihren Schoß, und in dumpfen hastenden Lauten bekannte er seine That. Alles, alles erzählte er: was ihn zum Wildraub verführt hatte, wie droben alles gekommen war, und wie ihm nur die Wahl geblieben zwischen Elend, Kerker, Peitsche – und dem, was er gethan hatte.

Sepha saß mit weißem Gesicht wie eine Gestorbene, und nur ihre Hände zitterten, die auf seinem Haupt lagen. Und als er nun verstummte, griff sie hinüber in die verwüsteten Kissen und faßte das starre kalte Händchen ihres Kindes. „Dank’s Deinem Herrgott, Du mein liebes Kindl, weil Du nur das nimmer hast erleben müssen!“

„Seph’!“ stöhnte er.

Sie neigte das Gesicht zu ihm hinunter und sagte ganz leise: „Weißt es auch, Polzer … weißt es denn auch, was Du gethan hast? Nicht bloß den andern hast erschlagen … uns alle, Dich und mich und Deinen armen Buben, und …“

Er preßte die Hand auf ihren Mund.

„Nein, Seph’, nein ... es weiß es ja keiner … nur ein einziger, der selber das Reden fürchten muß … und wenn sie mich gleich auf den Strecker spannen, ich sag’s nicht … und ich hab’ nichts anderes gethan als den Herrgott ans Kreuz geschlagen … und wenn er selber noch leben sollt’ und wieder aufkommen …“

Er verstummte plötzlich und hob erschrocken den Kopf. Jäh schoß er in die Höhe, stand mit geballten Fäusten und starrte mit finster drohenden Augen zur Kammerthür.

Gittli stand auf der Schwelle; ihre zitternden Hände suchten eine Stütze am Pfosten, als wollten ihr die Knie brechen. Ihrem entsetzten Blick, ihren entstellten Zügen sah man es an … sie hatte alles gehört.

„Dirn’!“ fuhr Wolfrat sie an. „Was willst?“

Abwehrend streckte sie die Hand gegen ihn, das Grauen schüttelte ihre schmalen Schultern und an der Wand sich entlang tastend, wollte sie zur Thür.

Mit einem zornigen Fluch sprang er auf sie zu und verstellte ihr den Weg. „Wohin willst?“

Da hob sie flehend die Hände und brach in Schluchzen aus: „Zu ihm! Zu ihm! Ob er tot oder lebig ist … laß mich, laß mich ... ich muß zu ihm.“

„Zu ihm? Und warum zu ihm?“

„Weil ich sterb’, wenn ich bleiben muß!“ schrie sie. „Laß mich … laß mich …“ Und wie von Sinnen faßte sie ihn am Arm und suchte ihn von der Thür wegzuzerren. Er schleuderte sie zurück, daß sie zu Boden sank, sie raffte sich auf und stürzte wieder auf ihn zu.

„Dirn’,“ knirschte er, „Du thust mir keinen Schritt aus dem Haus, oder …“ Er riß ein Beil von der Wand und schwang es.

„Jesus im Himmel … Polzer!“ kreischte Sepha, aber sie hatte nicht die Kraft, sich aufzurichten.

Mit ausgebreiteten Armen stand Gittli vor dem Bruder. „Schlag’ zu, schlag’ zu … hast ja ihn auch erschlagen. Thust mir nur eine Freud’ an, wenn Du zuschlagst, daß ich auch dalieg’ und meinen letzten Schnaufer thu’. Schlag’ zu, schlag’ zu … oder traust Dich nicht? Meinst, es wär’ an einem schon genug? Dann geh’ von der Thür weg und gieb meinen Weg frei!“

Hoch aufgerichtet stand sie vor ihm, mit blitzenden Augen, als wäre sie gewachsen und um Jahre gealtert in dieser Stunde.

Er ließ das Beil sinken und maß sie mit funkelnden Augen. „Du bleibst, Dirn’, ich sag’ Dir’s im guten …“

Es schien, als wollte sie ihn mit beiden Händen an der Brust fassen; aber sie besann sich, und dann plötzlich ging sie mit raschen Schritten auf das Bett zu. „Schau her auf Dein armes Kindl ... ich hab’ es lieber gehabt als mich selber, und heut’ in der Nacht hab’ ich gemeint, ich muß mir die Seel’ herausbeten aus dem Leib … und schau, jetzt leg’ ich die Hand auf sein kaltes Herzl, daß ich zu keinem Menschen ein Sterbenswörtl von dem sagen will, was ich weiß! … Bist jetzt zufrieden? … So gieb mir den Weg frei!“

„Du bleibst, sag’ ich. Und bevor ich nicht in aller Ruh’ mit Dir geredet hab’ ....“

„So halt’ mich, wenn Du kannst!“

Und ehe sie noch ausgesprocheu hatte, war sie in der Kammer verschwunden, er merkte ihre Absicht und stürzte ihr nach; doch bevor er die Schwelle erreichte, hatte sich Gittli schon auf die Brüstung des Fensters geschwungen. Mit einem Sprung war sie im Freien und flog der Straße zu.

„Gittli, Gittli! Dirn’! Ich thu Dich bitten um Gotteswillen … Gittli! Gittli!“ klang die Stimme des Bruders hinter ihr.

Aber sie schaute nicht um, schluchzend schüttelte sie im Lauf den Kopf und schlug ihre Hände vor die Ohren, um den Ruf nicht mehr zu hören. So rannte sie und rannte …

Es war nur eines in ihr, und dieses eine schrie nur immer: zu ihm, zu ihm!

Sie fragte sich nicht, was es wohl wäre, das mit Jammer und Sorge so plötzlich in ihr erwachte, das allen Schmerz der vergangenen Stunden in ihr erstickte, um ein noch größeres tieferes Weh über sie zu bringen, und das sie losriß von ihrem Bruder, um sie unaufhaltsam zu jenem anderen zu treiben, der doch vor wenigen Tagen noch für sie ein Fremder gewesen war. Sie fragte sich nicht, ob er tot liege in seinem Blut, ob er noch lebe, wie sie ihm helfen wolle, ob sie denn helfen könne, allein, mit ihrer schwachen Kraft. Sie fragte und sagte sich nichts als immer nur das eine: zu ihm, zu ihm!

Was in ihr lebendig geworden war, was sie trieb und jagte ohne Denken und Besinnen ... es war entfesselte Natur, die in diesem sechzehnjährigen Kinde nicht anders wirkte als in einem vieltausendjährigen Stein, der auf steilem Berghang liegt, ruhig, bedeckt von Moos, der Tritt eines Wildes, der Fuß eines Wanderers, das Wasser eines jähen Regens, ein Stoß des Zufalls setzt ihn in Bewegung; und unaufhaltsam geht nun seine Reise, nicht zur Rechten, nicht zur Linken, nur fort und fort und immer fort, dem unbekannten Ziel entgegen, keine Schranke messend, keine Tiefe scheuend, keinem Halt gehorchend, nur immer fort und fort, bis sein Weg vollendet ist, bis am Fuß des Berges ein sonniger Rasen ihn empfängt, oder bis ihn der dunkle See verschlingt, auf dessen tiefem Grund er den Ort der bleibenden Ruhe findet.

Die Leute, denen Gittli auf der Straße begegnete, blieben stehen, blickten ihr nach und schüttelten die Köpfe. Eine Dirne, welche mit wehenden Bändern im Haar zum Tanze ging und von Gittli überholt wurde, rief ihren Namen. Aber Gittli sah und hörte nichts. Sie rannte nur und rannte. Doch als sie, nahe den Bauernhöfen am Unterstein, von der Straße zu einem Fußpfad ablenkte, vernahm sie plötzlich von der Taferne her das Klingen der Geigen und Pfeifen! Dort wurde der Ostertanz gehalten. Da mußte sie an die Botschaft denken, welche Walti, der Klosterbub’, ihr gebracht hatte.

Tags zuvor, nach der Auferstehungsfeier, hatte der Bub’ sie vor dem Thor der Kirche erwartet. „Du, der Jäger schickt mich … ich soll Dich fragen, warum Du geweint hast, weißt Du, droben beim Vogt … und morgen wenn er herunterkommt zum Ostertanz, soll ich’s ihm wieder sagen!“

Er hatte an sie gedacht! Er hatte sich gesorgt um ihren Kummer! Und zum Tanz hatte er kommen wollen … zum Tanz mit ihr! Und jetzt … jetzt …

„Haymo! Haymo!“ schrie sie schluchzend aus und rannte weiter, während drüben in der Taferne die Stimmen der Pfeifen und Geigen übertönt wurden von einem wirren Jauchzen und Gejohl.

Ein Tanz war eben zu Ende. Mit brennendem Gesicht, aber gar wenig fröhlichen Augen trat Zenza aus der Thür der Taferne. Suchend schaute sie umher, ging bis in die Mitte der Straße und spähte in der Richtung gegen den See mit verdrossenem Blick den leeren Weg entlang.

Inzwischen kam von der entgegengesetzten Seite der Straße ein junger schmächtiger Bursch gegangen, mit freundlichem Gesicht und gutmüthigen Augen. Seine leichtgebeugte Haltung und die weißen schwielenlosen Hände verriethen den Bildschnitzer. Als er Zenza gewahrte, leuchteten seine Blicke freudig auf. Lächelnd schlich er sich an die Dirne heran und drückte ihr die beiden Hände über die Augen.

„Rath’!“ sagte er mit verstellter Stimme. „Wer bin ich?“

Zenza kicherte und griff nach seinen Armen. „Einer, auf den ich gewartet hab’!“

Diese Antwort machte sein ganzes Gesicht vor Freude glühen; aber er hielt fest … nun wollte er auch seinen Namen hören.

„Wer bin ich?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 303. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_303.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2024)