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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

und Verwundeten und erschüttert und angstbeklommen fragte man sich: Wie soll das enden?

Und doch war das alles nur das Vorspiel!

Der 5. Mai, der erste Tag des Brandes, ein Donnerstag, war zugleich ein Festtag: Christi Himmelfahrt. Die Kirchen, besonders die der entlegeneren Stadttheile, füllten sich mit Andächtigen. Sogar in der hart bedrohten Nikolaikirche wurde noch ein kurzer Morgengottesdienst gehalten, und der Pfarrer schloß mit einem Gebet um Abwendung noch größerer Gefahr. Am Abend desselben Tages war das herrliche Gotteshaus ein flammender Trümmerhaufen.

Gegen Mittag hatte sich die Schreckenskunde von dem furchtbaren Brande in der Altstadt durch die entferntesten Gegenden der Neustadt, hinaus in die Vorstädte und hinüber nach Altona verbreitet, und unabsehbare Menschenmassen flutheten durch die Straßen nach dem einen schrecklichen Ziele. Und nicht Neugierige und Schaulustige allein, sondern auch viele Tausende, die bereit waren, zu helfen und zu retten, was noch gerettet werden konnte, und die auch redlich und unverdrossen das Ihrige gethan haben.

Nun stürmten auch schon von allen Thürmen unaufhörlich die Glocken, denn das Feuer hatte inzwischen zwei, drei weitere Straßen ergriffen und – ein neues Schreckniß! – der Südwestwind war zu einem Orkan aus Süden geworden, der das heulende Flammenmeer mit Riesengewalt und mit dämonischer Schnelligkeit nach Norden, also der Neustadt zujagte.

Trostbrücke.      Alte Börse.      Rathhaus.  Alter Krahn. 
  Commercium.

Die Alte Börse und ihre Umgebung vor dem Brande.

Nachmittags gegett drei Uhr stand der Thurm der Nikolaikirche in hellen Flammen. Man hatte bereits einige Stunden früher leichte Rauchwolken um die Kugeln der Kuppel spielen sehen, und mehr als hundert beherzte Männer bildeten von unten mit ihren vollen Eimern eine Kette bis oben hinauf, wo der Thürmer mit mehreren Leuten beschäftigt war, aus seinem bereits halb geleerten Wasserbehälter die glimmenden Balken zu löschen, die sich unter der glühenden Kupferbedachung entzündet hatten. Alles vergebens! Das obere Gebälk brannte schon lichterloh, als die letzten Männer die Wendeltreppe hinuntereilten, um ihr Leben zu retten, und als sie unten ankamen, war der Thurm in eine himmelhohe Feuerpyramide verwandelt. Er stürzte bald darauf unter donnerähnlichem Krachen und dem tausendstimmigen Aufschrei der Menge in sich zusammen; auf dem zweihundert Fuß hohen Thurmstumpf aber loderten die weithin sichtbaren Flammen wie auf einem riesigen Altar noch die ganze Nacht hindurch und sandten immer neue Funken- und Feuergarben in die Kirche hinein, die auch bis auf die meterdicken Seitenmauern vollständig ausbrannte.

Der Platz der Alten Börse nach dem Brande.

Erhebend und erschütternd zugleich war der Augenblick, als das schöne Glockenspiel im Thurm, von der Gluth in Bewegung gesetzt, noch einmal erklang: „Allein Gott in der Höh’ sei Ehr!“ und nach einigen Minuten in schneidenden Mißtönen auszitterte ... ein Sterbelied!

Schon am Nachmittag des 5. Mai versammelte sich trotz des Festtages der Senat zu einer außerordentlichen Sitzung und blieb von da an im ganzen neunzig Stunden in ununterbrochener Thätigkeit – würdige, ehrenfeste Männer, die bei dem verhängnißvollen Rufe:

„Das Vaterland in Gefahr!“, sofort ihren ernsten und hohen Pflichten vollauf genügten, jedes persönliche Interesse unberücksichtigt ließen, um mit allen nur erdenklichen Mitteln das wie ein Blitz aus heiterer Luft über die Stadt hereingebrochene entsetzliche Unheil zu bekämpfen und zu bewältigen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 305. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_305.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2024)