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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

geistreiche Pointen nur die Gebildeteren verstehen konnten, und außerdem zog er aus seinen Lehren nicht alle die bedrohlichen Folgerungen, die in ihnen verborgen waren. Dieser eigenartige Weltverbesserer, der alle Gesetze aufheben wollte, mußte bei sämmtlichen Parteien, sowohl bei den Reaktionären wie bei den röthesten Sozialisten, Anstoß erregen, und die Franzosen fanden auch ein geflügeltes Witzwort, durch das sie Proudhon lächerlich zu machen suchten; sie fanden in dem Worte Anarchie einen Anklang an das Wörtchen ane, welches „Esel“ bedeutet, und nannten das neue System, mit dem die Welt beglückt werden sollte, nicht Herrschaftslosigkeit, sondern Eselsherrschaft.

Heute denkt die Welt über die Folgen der Lehren Proudhons anders; denn von allen Seiten her wird sie durch Nachrichten von verbrecherischen Attentaten in Empörung versetzt – von Attentaten, die aller Menschlichkeit spotten und nicht mehr als Zeichen eines politischen Kampfes, sondern als Ausgeburten einer finsteren Zerstörungswuth gedeutet werden müssen.

Im 4. Jahrhundert v. Chr. Geburt lebte in Ephesus ein gewisser Herostratos, der den Tempel der Diana in Brand steckte, nur um durch eine unerhörte That seinen Namen auf die Nachwelt zu bringen. Der herostratische Trieb, der an den Wahnsinn grenzt oder bereits eine Frucht desselben ist, hat sich zu allen Zeiten in einzelnen Menschen bethätigt, und so hörte man oft von Verbrechen, welche für den gesunden Menschenverstand geradezu unbegreiflich waren. Es hat auch zu verschiedenen Zeiten politische Parteien gegeben, welche, um ihr Ziel zu erreichen, vor dem Verbrechen nicht zurückscheuten, aber sie bildeten stets nur vereinzelte Erscheinungen in der Geschichte.

Erst das 19. Jahrhundert hat eine Partei gezeitigt, welche die Zerstörung um jeden Preis auf ihre Fahne geschrieben hat, und der Geschichtschreiber unserer Zeit muß mit Beschämung feststellen, daß diese Grundsätze nicht etwa einmal wie ein unheimlicher Brand aufflackerten, um für immer zu erlöschen, sondern daß sie in den Massen von Jahr zu Jahr, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt großgezogen werden konnten. In der That bildet die Geschichte des Anarchismus ein traurig düsteres Kapitel der Weltgeschichte, das mit philosophischen Redensarten beginnt und bereits bei vergossenem Blute und Dynamitbomben angelangt ist.

Pierre Joseph Proudhon wurde am 15. Juli 1809 als der Sohn eines armen Böttchers zu Besançon geboren. Er widmete sich dem Buchdruckergewerbe und wurde aus dem Setzer zum Theilhaber einer Buchdruckerei. Er war von einem regen, aber auch unruhigen Geiste, begann verschiedene Wissenschaften zu studieren und gab eine Grammatik heraus, wofür ihm die Akademie zu Besançon ein Stipendium von 1500 Franken auf drei Jahre ertheilte. Eine Preisfrage volkswirthschaftlicher Natur führte ihn auf das Gebiet des Sozialismus, und er überraschte von Paris aus die Akademie zu Besançon mit einer Schrift, welche den Titel: „Qu’est-ce que la propriété?“ (Was ist Eigenthum?) führte. Die Akademie äußerte Proudhon unverblümt ihr stärkstes Mißfallen und entzog ihm das Stipendium, aber die Schrift wurde für Proudhon und für viele andere, wie wir später sehen werden, grundlegend. Bereits in ihr hatte Proudhon die Grundzüge seines Systems aufgestellt, das in seinen späteren Werken nur noch näher ausgeführt wurde.

Der weise Mann von Besançon fand den Grund des sozialen Elends darin, daß in der heutigen Welt ungleiche Werthe zwischen dem Arbeiter und Eigenthümer ausgetauscht werden. Infolge seiner kapitalistischen Uebermacht bezahlt der Eigenthümer dem Arbeiter nicht den vollen Werth von dessen Leistung „und so erntet er, wiewohl er nicht säet, verzehrt er, wiewohl er nicht produziert, genießt er, wiewohl er nicht arbeitet.“ Der Eigenthümer wird auf diese Weise zum Dieb und Eigenthum ist Diebstahl. Alle Staatseinrichtungen und Gesetze laufen darauf hinaus, das Eigenthum zu schützen. Darum fort mit diesen Regierungen und Gesetzen! Jeder Mensch soll seinen eigenen Neigungen folgen dürfen, jeder arbeiten, was, wann und wieviel ihm beliebt. Nichts soll ihn beherrschen als seine eigene Vernunft und sein eigenes Gefühl und – das ist selbstverständlich – die Grundsätze, die Herr Proudhon für die Regelung des Austausches der Werthe aufstellt.

Der Krebsschaden unserer sozialen Einrichtung ist nach ihm der Austausch ungleicher Werthe; und er giebt einen „unfehlbaren“ Maßstab für die Beurtheilung des Werthes einer Leistung.

Gleichen Werth haben nach seiner Lehre Produkte, wenn sie in der gleichen Zeit und mit gleichem Aufwand hergestellt werden; also eine Stunde Freskomalerei wird ebenso bezahlt wie eine Stunde Kohlengraben; denn der Unterschied der Leistung hängt ja nur von Fähigkeiten der Menschen ab, und ein Musiker wie Beethoven wird für den gleichen Lohn lieber komponieren als Feldarbeiten verrichten!

Wer bezahlt aber den Lohn? Eine Behörde giebt es nicht. Nein, jeder, der etwas von einem anderen will, soll mit ihm einen Vertrag abschließen, und diese Verträge sollen die Stelle der Gesetze einnehmen.

Es wäre müßig, den Beweis führen zu wollen, daß in der Proudhonschen Gesellschaftsordnung die Uebervortheilung des einen durch den anderen Vertragschließenden im weitesten Maße möglich und die Folge davon erst recht die soziale Ungleichheit wäre. Wir möchten nur noch erwähnen, daß der erste Verfechter der Anarchie als eine Gewähr für die wirkliche Unabhängigkeit aller Produzenten den Privatbesitz hinstellte, leider aber es unterließ, genau zu bezeichnen, wie dieser Privatbesitz anders als das Eigenthum beschaffen sein sollte.

Um seine Ideen praktisch zu erhärten, gründete Proudhon während der Revolutionswirren eine „Tauschbank“, die aber kaum zur Thätigkeit gelangte, da ihr Gründer wegen Preßvergehen verhaftet und verurtheilt wurde.

Proudhon starb im Jahre 1865. Die verhängnißvolle Erbschaft, die er der Nachwelt hinterließ, war der Gedanke an einen Staat ohne Regierung und ohne Gesetze, kurz, der Gedanke des Anarchismus.

Proudhon selbst war kein Mensch, der zu Gewaltthaten neigte, er meinte, daß seine Weltordnung durch die ihr innewohnende geistige Kraft zum Siege gelangen würde. Vom allgemeinen Stimmrecht erwartete er nichts; da die Massen sich doch nur durch Führer leiten ließen, nannte er das allgemeine Stimmrecht „Erdrosselung des öffentlichen Bewußtseins“. Die Durchführung seiner Pläne erhoffte er lediglich von der Propaganda, von der Verbreitung seiner Lehren. „Sind die Ideen aufgestanden,“ sagte er, „so stehen die Pflastersteine von selbst auf, wenn anders die Regierung nicht vernünftig genug ist, sie nicht abzuwarten. Ist das nicht der Fall, so hilft alles nichts.“

Wir werden sehen, in welcher Weise der Gedankengang des Weisen von Besançon von seinen Nachfolgern fortgesponnen wurde.

Die Lehren Proudhons fanden in den vierziger Jahren ein wenn auch schwaches Echo in Deutschland. Es fanden sich hier in der gährenden sturmbewegten Zeit einige Leute, welche im Proudhonschen Sinne weiter philosophierten. Neben dem Agitator Moses Heß waren es namentlich die Schriftsteller Karl Grün, Max Stirner und W. Marr. Karl Grün versprach sich von dem herrschaftslosen Staate ein wahres Paradies auf Erden: was die Menschheit zu ihrer Lebensnothdurft brauche, das könnten an den vervollkommneten Maschinen Kinder unter fünfzehn Jahren „in Festkleidern als Spiel zur Zerstreuung“ produzieren. Max Stirner wußte an den Egoismus zu appellieren; der anarchistische Staat bestand nach ihm aus einem freien Verein von Individuen, und die Vortheile, die der einzelne daraus ziehen könnte, beleuchtete er mit den Worten: „Den Verein benutzest Du und giebst ihn pflicht- und treulos auf, wenn Du keinen Nutzen aus ihm zu ziehen weißt. Die Gesellschaft verbraucht Dich, den Verein verbrauchst Du!“ Wilhelm Marr schoß über Proudhon weit hinaus, in dem er unter anderem die Vernichtung der Ehe predigte.

Dieser deutsche Anarchismus verschwand mit den Stürmen der vierziger Jahre von der Bildfläche, und auch Proudhon wurde vergessen; das Schlagwort „Anarchie“, welches der Franzose ausgegeben hatte, sollte erst später von den Russen wieder aufgenommen werden. Erst als das Geistreichthun der Franzosen mit der rohen Gewalt der Russen sich paarte, sollte die Welt durch die ungeheuerliche Schöpfung des heutigen Anarchismus überrascht werden.


2.0 Die Propaganda der That.

Am Anfang der sechziger Jahre gewann die sozialistische Bewegung neue Nahrung; in jene Zeit fällt die Gründung der „Internationale“ und der deutschen sozialdemokratischen Partei. Im Gefolge der Sozialistenführer erschien damals ein Mann, der schon auf eine wechselvolle revolutionäre Thätigkeit zurückblickte, der in den vierziger Jahren in Deutschland und Oesterreich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_310.jpg&oldid=- (Version vom 20.4.2024)