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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

zum Tode verurtheilt und dann begnadigt worden war, der später als Strafkolonist Sibirien kennengelernt hatte und über Japan nach Kalifornien geflohen war: dieser Mann war Michael Bakunin. Er war zum Vertreter der radikalsten Richtung geworden und wurde sowohl von der Internationale als von den Sozialdemokraten ausgestoßen, aber er ließ sich nicht mäßigen und halten; er ging seinen Weg weiter und gründete seine eigene Partei, indem er von Proudhon das Schlagwort „Anarchie“ entlehnte. Für Bakunin bedeutete jeder Staat Herrschaft und somit jeder Staat Despotismus – Freiheit könne man nur von einer „freien Vereinigung“ von Menschen ohne jeden gesetzlichen Zwang erwarten. Wie diese Vereinigung beschaffen sein sollte, darüber zerbrach sich Bakunin den Kopf nicht, er erklärte vielmehr rundweg, daß es müßig sei, sich mit der genaueren Ausmalung der idealen Zukunftsgesellschaft zu befassen, da diese nach dem Sturze der alten sich von selber entwickeln werde. So mußten alle, die das Los der Menschheit verbessern wollten, nach seiner Meinung nur darauf bedacht sein, den Sturz der heutigen Gesellschaft herbeizuführen.

Auf Reformen ließ sich Bakunin nicht ein; parlamentarische Kämpfe waren für ihn ein müßiges Unterfangen, die Masse der Wähler werde ja doch durch einige wenige Führer beeinflußt, die Stimmzettel waren in seinen Augen keine Waffe – und er hatte von seinem Standpunkt ganz recht; denn auf den unsicheren Wechsel der herrschaftslosen Vereinigung, die sich erst nach dem Sturze der heutigen Gesellschaft bilden sollte, hätte er niemals eine größere Zahl von Anhängern werben können; er wäre auf sein leeres Programm niemals in ein Parlament gewählt worden.

Er predigte darum die Anwendung der Gewalt zur Vernichtung des Bestehenden. Seine Anhänger sollten sich die Aufgabe stellen, Anarchie, d. h. Gesetzlosigkeit und Unordnung im heutigen Sinne des Wortes herbeizuführen. Bakunin war es, der in dürren Worten die furchtbare Losung gab: „Anarchie in dem Sinne der Entfesselung alles dessen, was man heute böse Leidenschaften nennt, und der Vernichtung desjenigen, was man in derselben Sprache öffentliche Ordnung nennt!“ Zu diesem Zwecke gründete er einen Geheimbund, dessen Mitglieder laut seinen Satzungen „revolutionäre Leidenschaft besitzen, ja den Teufel im Leibe haben sollten“. Die Aufgabe des Geheimbundes bestand darin, den Generalstab für die kommende Revolution heranzubilden.

Man sollte meinen, daß Bakunin an katilinarischer Gesinnung das Möglichste geleistet habe, aber er wurde dennoch an Feuereifer von einem seiner Schüler übertroffen.

In dem Geheimbund Bakunins befand sich ein junger Mann von etwa 22 Jahren. Es war Sergei Netschajew, Sohn eines Hofbedienten und ehemaliger Lehrer in einer russischen Dorfschule. Bakunin und Netschajew lernten sich in der Schweiz kennen und von hier aus sandte Bakunin seinen Jünger nach Rußland; er sollte „unter das Volk gehen“ und auch in Rußland den Generalstab für die künftige Revolution sammeln. Die Hauptthätigkeit Netschajews fällt in das Jahr 1869.

Noch jung an Jahren, wandte sich Netschajew vor allem an die studierende Jugend und beredete seine Anhänger, die Hörsäle zu verlassen und „unter das Volk zu gehen“. Sie sollten für die kommende Revolution nicht nur die Bauern, sondern alle Stände zu gewinnen suchen, ja selbst vor dem Bunde mit Räubern nicht zurückschrecken. Als Anweisung für diese seine Sendlinge entwarf Netschajew feinen „Katechismus des Revolutionärs“.

Der Revolutionär sollte nach den Geboten Netschajews mit allem brechen, was ihm bis dahin lieb und heilig gewesen war.

Für ihn sollte es fortan nur einen Trost, nur einen Genuß, einen Lohn und ein Verlangen geben: den Erfolg der Revolution. Tag und Nacht sollte ihn nur ein Gedanke beschäftigen: der Gedanke an die unerbittliche Zerstörung. „Das Wort,“ lehrte Netschajew, „hat für uns nur Werth, wenn ihm die That auf dem Fuße folgt“, und zur Ausführung dieser That sollte man sich aller möglichen Mittel bedienen. Gift, Dolch, Strick u. s. w., alle Mittel billigte Netschajew, „denn die Revolution heiligt alles ohne Unterschied.“

Und welches Ideal, welche neue Staats- oder Gesellschaftsordnung schwebte diesem furchtbaren Fanatiker vor?

Gar keine! lautet die Antwort. Darin offenbart sich der schaurige Wahn des Anarchismus; er will nichts aufbauen. Die Gestaltung des neuen freien Reiches überläßt Netschajew – den künftigen Geschlechtern. „Unsere Arbeit,“ ruft er, „ist die schreckliche, totale unerbittliche Zerstörung!“ Diese Art der Revolution nannte Netschajew die „Propaganda der That“.

Netschajew wirkte in Rußland nur eine kurze Zeit. Er fürchtete von einem der Mitglieder seines Geheimbundes, daß es ihn an die Regierung verrathen würde, und er kam ihm zuvor, indem er es ermordete. Infolgedessen floh er nach der Schweiz, wurde aber von dieser im Jahre 1872 an die russische Regierung ausgeliefert. Niemand vermag zu sagen, was aus ihm geworden ist; mit seinem Verschwinden in den russischen Gefängnissen bricht die Lebensgeschichte des Erfinders der „Propaganda der That“ ab.




3.0 Am Zerstörungswerk.

So haben die Russen auf Grund der Proudhonschen Philosophie den modernen Anarchismus geschaffen, den Proudhon selbst ohne Zweifel mit Abscheu verdammt hätte. Allein dieser reine moderne Anarchismus kam in Rußland wenig zur Geltung; dort bildete sich eine besondere revolutionäre Partei aus, welche durch ihre Schreckensthaten zu einer unheimlichen Macht wurde, aber die Ziele dieser russischen „Nihilisten“ sind politisch-nationaler Natur, so daß man diese Partei mit dem Anarchismus nicht verwechseln darf.

Dagegen fanden die Lehren Bakunins und Netschajews in hirnverbrannten Köpfen des europäischen Westens Anklang. Bakunin starb im Jahre 1873, doch seine Schüler setzten in der Schweiz die Agitation fort, und es gelang ihnen, dieselbe auch nach Deutschland zu verpflanzen. Zum Verfechter der Propaganda der That wurde hier Reinsdorf und später Johann Most, der, wie einst Bakunin, wegen seiner radikalen Anschauungen von der sozialistischen Partei sich trennen mußte. Die Schandthaten des Anarchismus in Deutschland sind jedem bekannt: auf diese wüste Agitation ist das Attentat Hödels auf den Kaiser Wilhelm I. im Jahre 1878 zurückzuführen; hierher gehört der Plan Reinsdorfs, im Jahre 1883 die deutschen Fürsten am Niederwalddenkmal in die Luft zu sprengen; eine Anarchistenthat war ferner die Ermordung des Polizeiraths Rumpff in Frankfurt a. M. durch Lieske im Jahre 1885 und allem Anschein nach auch der räuberische Angriff auf den Dekan Poninski in Koscielec, Reg.-Bez. Bromberg, von dem vor einigen Wochen Kunde zu uns gelangt ist.

Der Anarchismus vermochte jedoch in Deutschland nicht größere Fortschritte zu machen; denn er wurde nicht nur von der Regierung, sondern auch von den Leitern der sozialdemokratischen Partei bekämpft, Sozialdemokratie und Anarchismus gehen ja nicht nur in der Taktik, sondern auch in den Zielen auseinander. Die Sozialdemokratie will die Welt durch eine zwangsweise Regelung der Produktion verbessern, ihre Bestrebungen sind mehr oder weniger kommunistischer Natur, während der Anarchismus im vollsten Gegensatz hierzu allen Zwang aufheben will.

Unter dem modernen Anarchismus hat ferner Spanien zu leiden. Die Anarchisten benutzten schon die Revolution im Jahre 1873, um ihr Haupt zu erheben und sich sogar einiger Städte im Süden zu bemächtigen; sie wurden damals bald niedergeworfen und als sie später durch den Geheimbund „die schwarze Hand“ einen neuen Aufstand vorbereiten wollten, wurde dieser rechtzeitig entdeckt und im Keime erstickt. Leider aber hat nach den jüngsten Berichten der Anarchismus in Spanien wieder an Ausbreitung gewonnen.

Oesterreich wurde zu Anfang der achtziger Jahre von der anarchistischen Agitation heimgesucht; hier schritten die Anarchisten zum Morde von Privatpersonen, um sich Mittel für die Partei durch Raubmord zu verschaffen. Nach der Hinrichtung der Hauptschuldigen Stellmacher und Kammerer gelang es jedoch der Regierung, die Bewegung in kurzer Zeit zu unterdrücken.

Wenn auch England selbst von anarchistischen Attentaten verschont blieb, so bildete doch London lange Zeit den Schlupfwinkel der Anarchisten, hier gab auch Most seine berüchtigte Zeitung „Die Freiheit“ heraus, in welcher er offen zum Morde aufforderte. Als er schließlich in London keinen Drucker mehr für sein Blatt finden konnte, zog er nach Amerika, um dort seine Thätigkeit fortzusetzen. Es ist geradezu ungeheuerlich, was der wilde, blutgierige Wahnwitz dieses Menschen an Aufreizung zu leisten vermochte. Er gab Anweisungen in der „revolutionären Kriegswissenschaft“ und empfahl Mittel zur Vernichtung von Menschen, die sonst nur in Irrenhäusern ausgeheckt werden. Einen Irrsinnigen, der wie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 311. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_311.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2024)