Seite:Die Gartenlaube (1892) 326.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Der Klosterjäger.

Ein Hochlandsroman aus dem 14. Jahrhundert von Ludwig Ganghofer.
(3. Fortsetzung.)


11.

Als um die Mittagsstunde vom Klosterthurm der Hall der Glocken über Thal und Berge schwebte, hatte Gittli schon die Almen erreicht. Ihre Kräfte waren fast erschöpft, und doch lag vor ihr noch ein weiter, weiter Weg. Ueber das offene Almfeld, von welchem aus sie den Kreuzwald schon erblicken konnte, eilte sie noch in vollem Lauf hinweg. Doch als sie einen steilen, brüchigen Hang erreichte, auf welchem die Regenstürze des Frühjahrs jede Spur eines Pfades vertilgt hatten, da ging ihr der Athem aus und die Glieder versagten. Zu Tod erschöpft sank sie auf einen Rasenfleck; schluchzen konnte sie nicht, nur stöhnen. Mit der Brust auf der Erde liegend, drückte sie das glühende Gesicht in das kühle Gras und krampfte die Hände in den morschen Grund. Sie meinte zu sterben, zu ersticken. Und dennoch fühlte sie nicht die eigenen Schmerzen, sie dachte nicht an sich selbst, immer nur an ihn, an ihn! Jetzt lag sie hier, ein Häuflein Elend und Schwäche . . . und er lag hilflos dort oben, verblutend, sterbend. Sie richtete sich halb empor und schrie mit gellender Stimme hinaus in die lautlose Stille der Berge: „Hoidoooh! . . . Leut’! Leut’!“

Aber niemand gab Antwort; nur das Echo ihrer Stimme klang hohl zurück von Wald und Wänden.

Weshalb nur hatte sie zu seiner Hilfe die Leute nicht gerufen, wo Leute waren? Drunten im Thal, im Dorf? Hatte sie an den Schwur gedacht, bei dem sie die Hand auf das erkaltete Herz des Kindes gelegt? – „Ach du mein Gott, das Kindl, das Kindl!“ Nun konnte sie wieder schluchzen. – Oder hatte sie gemeint, daß sie allein ihm helfen, allein ihn retten und heilen könnte wie durch ein Wunder? Nein, nein! An gar nichts hatte sie gedacht, weder an das eine, noch an das andere – sie war nur gerannt und gerannt, blind und taub, ohne zu denken, ganz von Sinnen. Und jetzt lag sie hier . . . so weit von ihm, und noch weiter von den Menschen im Thal . . . und wenn er verbluten mußte, verschmachten in Schmerz und Noth, dann war es nur ihre Schuld, ihre Schuld ganz allein!

Sie mußte zu ihm, sie mußte, mußte, und wenn ihr die Füße brechen und alle Glieder vom Leibe fallen sollten! „Haymo! Haymoli! Schau, ich komm’ ja schon!“ Mühsam raffte sie sich auf, keuchend überwand sie den steilen Hang; droben im dunklen Hochwald, der sie empfing, lehnte sie sich für kurze Weile an einen Baum, bis sie Athem fand, dann wankte sie weiter. Die sachte Neigung des Waldes und ein ausgetretener Pfad erleichterten ihr den Weg.

Plötzlich blieb sie lauschend stehen; hinter einer Biegung des Steiges hörte sie Steine kollern und tappende Schritte, als käme einer schwer auftretend mit nackten Füßen gegangen. Heiß fuhr ihr die Freude zum Herzen: das war Hilfe, die ihr der liebe Gott gesandt! Sie wollte rufen, aber der Laut erstarb ihr in der Kehle . . .

Um die Biegung des Pfades kam ein mächtiger Bär getrottet, die Nase des dicken Kopfes spürend zur Erde gesenkt. Ohne recht zu wissen, was sie that, raffte Gittli einen Stein auf und erhob den Arm zum Wurfe; doch als der Bär nun den Kopf emporrichtete, machte der Schreck sie erstarren. Sie rührte wohl die Lippen; aber nicht in Worten, nur in Gedanken sprach sie den Bärensegen:

„Großvater Zottefell,
Süßfuß, Waldgesell,
Rühr’ mich nit an,
Birg’ Deinen Zahn,

Hüt’ Deine Tatz’,
Weiche vom Platz,
Krumm, krumm,
Um mich herum!“

Regungslos standen der Bär und das Mädchen sich gegenüber: Gittli mit erhobenem Arm, vom Entsetzen fast versteinert, der Bär betroffen, beinahe selbst erschreckt von der unerwarteten Erscheinung. Eine Weile schaute er mit schiefgehaltenem Kopf das Mädchen an, dann schüttelte er den Pelz, wandte sich seitwärts in den Wald und trollte gemächlich zwischen den Bäumen dahin. Der Stein fiel aus Gittlis Hand, der Bann ihrer Glieder löste sich, und von peinigender Furcht getrieben, stürzte sie davon. Doch nicht für ihr eigenes Leben fürchtete sie . . . das Abenteuer war ja überstanden . . . aber der Bär war von dort gekommen, wohin ihr Weg ging! Die Angst stellte ihr ein Bild vor die Seele, das sie schaudern machte bis ins innerste Mark. Sie rannte und rannte, alle Erschöpfung war von ihr gewichen. Entsetzen, Jammer und Sorge hatten ihre erlöschenden Kräfte neu belebt.

Jetzt erreichte sie das offene Steinthal und sah auf der Höhe schon das Kreuz in die Lüfte ragen, umflimmert vom Schein der Sonne. Nun stieg sie über den letzten Hang empor – immer wieder mußte sie stehen bleiben – nicht die Ermüdung, sondern die herzbrechende Angst vor dem Anblick, der ihrer wartete, benahm ihr den Athem und fesselte ihre Glieder. Alle Pein, die sie erfüllte, sprach aus dem trostlosen Blick ihrer Augen.

Wankend erreichte sie die Höhe. „Haymo, Haymo!“ schluchzte sie . . . aber der Platz vor dem Kreuze war leer. Nur eine halb vertrocknete Blutlache bezeichnete die Stelle, an welcher die That geschehen war . . . und versprengtes Blut klebte auch an dem Kreuz und seinem Bilde. „Du! Du bist dabeigewesen . . . und hast es geschehen lassen.“ Und dann wieder schrie sie: „Haymo! Haymo!“ Aber keine Antwort kam. Da gewahrte Gittli, daß eine blutige Fährte hinwegführte auf dem Pfade gegen die Jagdhütte. Ein Schimmer freudiger Hoffnung erwachte in ihr: Haymo mußte noch leben, er hatte noch die Kraft besessen, sich aufzurichten, sich heimzuschleppen. Schluchzend und immer wieder den Namen des Jägers rufend, folgte sie der Spur, die er gezeichnet mit seinem Herzblut . . . und jeder neue Tropfen, den sie fand und der sie leitete, war ihr ein neuer brennender Schmerz.

Immer näher kam sie der Hütte, und immer wollte ihr jammernder Ruf noch keine Antwort finden. An der Hütte, die sie mit einem Steinwurf schon hätte erreichen können, sah sie die Thür geschlossen. Diese Wahrnehmung jagte ihr neue Angst in die Seele.

Jetzt lenkte der Pfad aus den dichten Büschen der Krüppelföhren auf eine Rodung – und da lag er vor ihr, mitten auf dem Steige, mit eingebrochenen Knien, leblos, mit Blut besudelt, das Haupt versunken in Moos und welkem Krautwerk, mit seitwärts geschlagenen Armen, während die Finger noch den Bergstock und die Armbrust umklammert hielten.

„Haymoli! Haymoli!“ rang es sich in Schmerz und dennoch auch in Freude von ihren Lippen, während sie niederstürzte an seiner Seite. Sie faßte seine Hände, rüttelte seine Arme, hob sein Haupt empor – aber kein Zeichen des Lebens rührte sich in seinen Zügen, kein fühlbarer Hauch entströmte seinem halb geöffneten Munde, fahle Blässe lag auf den eingefallenen Wangen, und bläulich schimmerten die Lippen und die geschlossenen Lider. Dennoch erlosch die Höffnung nicht in ihrem Herzen; sie konnte das Schlimmste nicht fürchten, an seinen Tod nicht glauben . . . das Undenkbare denkt man nicht . . . und sie hielt ihn ja in ihren Armen, fühlte ja die Wärme seines Körpers! Und zum Jammer blieb ihr keine Zeit ... sie mußte helfen, helfen, helfen!

In einer tiefen Felsschrunde gewahrte sie einen Klumpen Schnee; sie eilte hin, warf sich auf die Erde, griff mit beiden Armen hinunter und faßte, was ihre Hände nur fassen konnten. Mit dem Schnee begann sie sein Gesicht zu reiben . . . wohl färbte eine matte Röthe seine Wangen, aber das schlummernde Leben wollte nicht erwachen. Was thun? Was thun? Da schoß ihr die Erinnerung an jenes Sprüchlein durch die Sinne:

„Zwei Tropfen machen roth . . .“

Eine Nieswurz! Mit brennenden Augen spähte sie umher. Auf hundert Schritte fast, einem hohen Fels zu Füßen, meinte sie eine Staude zu erkennen; sie sprang empor und rannte hin; und sie hatte sich nicht getäuscht: rings um das Stöcklein hingen noch die verblühten Schneerosen an den welken Stengeln. Mit ihren Fingern grub sie die Wurzel aus der Erde, und während sie zurücklief, säuberte sie Wurzel und Hände an ihrem Röcklein.

Nun lag sie wieder neben Haymo auf den Knien, brach die Wurzel in zwei Stücke, hielt sie über seine Lippen und drückte und preßte, bis aus dem Mark der Wurzelstücke zwei große Tropfen auf Haymos Lippen fielen. Mit heißpochendem Herzen wartete sie, keinen Blick von seinem Munde verwendend. Aber seine Lippen wollten sich nicht rühren, und nicht die leiseste Bewegung zeigte sich an seiner Kehle.

Sie rüttelte seine Schultern und schluchzte dicht an seinem Ohr. „Haymoli, geh’, so thu’ doch schlucken, ich bitt’ Dich um Tausendgottswillen, thu’ doch schlucken!“ Dann wieder wartete sie – vergebens. „O Gott, o Gott, was thu’ ich denn?“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 326. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_326.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2021)