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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Sie faßte einen Ballen Schnee, brachte ihn durch die Wärme ihrer Hände zum Schmelzen und ließ das Wasser über Haymos Lippen träufeln. Seine Mundhöhle füllte sich . . . nun plötzlich lief ein Zucken über seinen Körper, ein heftig stoßender Athemzug, ein Gurgeln und Röcheln . . . dann wieder lag er still, aber seine Lippen bewegten sich – er hatte geschluckt, und gleichmäßig strömte jetzt sein Athem.

Schluchzend und lachend in stürmischer Freude, schlang Gittli die Arme um sein Haupt und hob es empor an ihre Brust. Sie spürte an dem Hauch seiner Lippen, wie sein Athem sich kräftigte, sie sah, wie seinen Wangen allmählich, wenn auch nur matt, die Farbe des Lebens wiederkehrte, seine Arme bewegten sich, er rührte den Kopf, . . . langsam öffneten sich seine Augen; lange, lange schaute er das Mädchen an mit verlorenem Blick . . . „Kennst mich, Haymo, kennst mich?“ stammelte sie und beugte den Kopf zurück, damit ihm nicht ihre rinnenden Thränen in das Antlitz fielen. „Kennst mich? Schau ich bin’s ja, ich, die Gittli!“ . . . und nun erkannte er sie. Ein tiefer Athemzug hob seine Brust, seine Augen schimmerten und ein seliges Lächeln spielte um seine Lippen. Er wollte sprechen, aber seine Zunge konnte nur lallen.

„Geh’, geh’, thu’ Dich nicht plagen, mußt nicht reden,“ stammelte sie, während sie einen Arm unter seine Schultern legte, um ihn emporzurichten. „Komm’, thu’ Dich nur anhalten an mir . . . so . . . halt’ nur recht fest . . . schau, es geht ja schon, es geht schon!“ Ihr ganzer Körper schwankte und erzitterte unter der Last, mit welcher der Entkräftete an ihrem Halse hing, aber sie brachte ihn auf die Füße. „So, und jetzt mach’ ein Schrittl . . . und jetzt noch eins . . . so, so!“ Er wandte halb den Kopf und tastete mit dem freien Arm gegen die Erde. Sie verstand ihn: er wollte sich von seiner Waffe nicht trennen, sie war ja ein Stück seines Lebens; als er vor dem Kreuz aus tiefer Ohnmacht erwachte, hatte sein erster Blick der Armbrust gegolten und bevor er sich von der Stelle schleppte, hatte er das Weidmesser, noch roth und naß von seinem eigenen Blut, in der Scheide verwahrt. Gittli ließ sich halb in die Knie sinken und es gelang ihr, die Armbrust zu erfassen. „Schau, Haymo, schau, ich hab’s ja schon! Jetzt aber komm’ nur, komm’ . . . weißt, wir müssen schauen, daß ich Dich heimbring’. Das Griesbeil[1] hol’ ich Dir später, jetzt muß ich’s liegen lassen . . . schan ich brauch’ ja meine Händ’ für Dich!“ Sie hatte das Schießzeug über die Schulter gehängt und umschlang den Wankenden wieder mit beiden Armen; und so schleppte sie ihn vorwärts, Schrittlein um Schrittlein, jeden Fußbreit Weges, den er mit taumelnden Knien gewann, als ein heiß erkämpftes Gut begrüßend, jeden zitternden Ruck seiner Füße mit zärtlichen Worten preisend wie eine Heldenthat. Einmal zuckte er stöhnend zusammen.

„Haymoli!“ flog es in heißer Angst von ihren Lippen.

Der süße Klang seines Namens schien ihm neue Kraft zu geben; er ballte die Fäuste, wie um den Schmerz zu bezwingen, hob das Gesicht zu ihr und schüttelte den Kopf, als wollte er sagen. „Es thut nicht weh!“

Wieder ging es weiter, Schritt um Schritt. Endlich erreichten sie die Hütte; nur mühsam gelang es dem Mädchen noch, Haymo zum Lager zu bringen; sie ließ ihn auf das Wolfsfell sinken und schob das Polster unter seinen Kopf. Dann wankte sie selbst vor Erschöpfung, ein Schwindel befiel sie, und schwer athmend, zitternd an Händen und Knien, saß sie eine Weile mit taumelnden Sinnen auf der Bank. Als sie sich erholte, gewahrte sie, daß Haymo das Bewußtsein wieder verloren hatte. Sie stürzte zu ihm; doch als sie den ruhigen Gang seines Athems spürte und den wohl matten, aber gleichmäßigen Schlag seines Herzens, da war sie wieder getröstet. Sie richtete sich auf und nahm den Kopf in beide Hände: was mußte, was konnte sie thun? Hier in dieser Oede, auf sich allein gestellt? Sie jammerte und klagte nicht mehr . . . jetzt dachte sie, und dann ging sie ans Werk, in fliegender Hast und dennoch ruhig und besonnen. Wohl faßte und ermaß sie nicht ganz die Schwere des Ernstes, der aus ihre jungen Schultern gelegt war. Doch aus dem Kinde war ein Weib geworden, das freilich die jäh erwachte Sprache seines Herzens noch nicht hörte und verstand, ihrem zwingenden Geheiß aber unbewußt gehorchte wie das in Lüften treibende Blatt der Gewalt des Sturmes. Tapfer und siegesfreudig kämpfte sie für diesen todwunden, hilflosen Mann, ohne daß auch nur ein leiser Gedanke ihr sagte, daß sie kämpfe um das köstlichste Gut ihres Daseins, um das Leben des Geliebten . . .

„Im Herzen tief
Ein Blümlein schlief . . .“

Was Gittli empfand, es verhüllte sich vor ihr in dem kindlichen Gedanken, daß sie mit Leib und Seele diesem Manne dienen und an ihm sühnen müsse, was die mörderische Hand ihres Bruders verschuldet hatte.

Bei der Armuth des Lebens, das sie unter dem Dach des Sudmanns geführt, hatte Gittli von Kind auf gelernt, so mancher Fährlichkeit mit eigener Hand zu wehren, ohne fremde Hilfe. Das kam ihr nun zu statten. Bei einer Musterung der Stube fand sie das Nöthigste: Feuerstein und Zunder, gesalzenes Fleisch, das eine kräftige Suppe gab, Hirschtalg zur Bereitung einer Wundsalbe und Linnen zum Verband; mit dem letzteren war es wohl gar spärlich bestellt, aber da war gleich geholfen . . . sie riß sich die weißen, bauschigen Aermel von den Schultern.

Rasch und sicher ging ihr alles, was sie that, von den kleinen, flinken Händen. Und bei allem, was sie begann, flog immer wieder ein Blick hinüber zu dem stillen Mann. Durch Thür und Fenster leuchtete die Sonne, und würzig strömte die Frühlingsluft der Berge in den kleinen Raum, in dem das Schicksal zweier Menschen auf der Wage schwebte.

Gittli hatte Feuer gemacht und das sorgsam ausgewaschene Fleisch zum Sieden gesetzt. Nun eilte sie ins Freie, um eine frische Nieswurz auszugraben und Harz von den Fichten zu sammeln, welche die Hütte umstanden. Am Feuer läuterte sie einen Theil des Harzes, vermischte es mit geronnenem Hirschtalg und stellte die fertige Salbe an einen schattigen Ort, damit sie abkühle. Im Fleischtopf brodelte schon die werdende Suppe. Ach wenn es doch Sommer wäre! dachte Gittli; sie kannte alle heilsamen und kräftigenden Bergkräuter – welch ein würziges Süpplein hätte sie bereiten können! Aber noch sproßte auf den Berghalden kein Kraut und blühte keine Blume. Ein Glück nur, meinte sie, daß der liebe Gott die Schneerosen erschaffen hatte!

Sie holte frisches Wasser und trug in einer Pfanne allen Schnee zusammen, den sie in den Felsschrunden rings um die Hütte fand. Und nun mußte geschehen, was ihr am schwersten wurde; mit zitternden Händen, scheu und beklommen, begann sie das Werk. In der Tischlade hatte sie ein Messer gefunden. Mit ihm trennte sie auf der Seite, auf welcher Haymo die Wunde trug, den Aermel von seinem Wams und löste über der Schulter die Nähte bis zum Hals. Ein Zittern befiel sie, und die Thränen stürzten aus ihren Augen, als sie die bloßgelegte Wunde erblickte, welche mit blutigen Rändern klaffte wie ein Mund mit rothen Lippen. Die Blutung schien gestillt, doch rings um die Wunde zog sich eine breite, heiß brennende Schwellung.

Gittli hatte die Hände vor die Augen geschlagen; rasch aber fand sie wieder den in Schmerz und Pein verlorenen Muth. Sie wusch die Wunde, kühlte mit Schnee die glühende Schwellung und erneuerte immer wieder den schmelzenden Schnee, bis die Röthe der Haut zu schwinden, die Schwellung sich zu senken begann. Jetzt vertheilte sie die Salbe auf einen Leinwandlappen, legte ihn über die Wunde und verklebte seinen Rand mit Harz.

Nun war es gethan! „Ach Gott!“ seufzte sie auf aus erleichtertem Herzen, trocknete die Thränen von ihren Wangen und beugte sich über Haymo. Still und regungslos hatte er alles mit sich geschehen lassen; seine Ohnmacht hatte sich, ohne daß er aus ihr erwachte, verwandelt in den tiefen Schlummer der Schwäche.

Um die bösen Geister von ihm zu treiben, welche Gewalt haben über Schlafende, machte sie auf seine Stirn und Brust das Zeichen des Kreuzes, flocht aus einem langen Heuhalm, den sie aus dem Lager zog, einen Drudenfuß und legte ihn zu Häupten des Bettes auf die Erde. Dann eilte sie zum Herd zurück. Die Suppe war kräftig und wohlschmeckend gerathen; das Fleisch schnitt Gittli in kleine Stückchen und zerrieb sie auf einer reinlichen Felsplatte mit einem Kieselstein zu Brei, den sie der Suppe beimengte; dann setzte sie noch einen Tropfen vom Saft der Nieswurz zu – er machte das Herz frischer schlagen und das Blut lebendiger strömen – und die Suppe war fertig.

In der einen Hand den hölzernen Löffel, in der anderen den Napf mit der Suppe, setzte sie sich auf den Rand des Bettes.

„Haymo!“

Er rührte sich nicht.

  1. Bergstock.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_327.jpg&oldid=- (Version vom 3.11.2021)