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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Sie neigte sich zu seinem Ohr. „Haymoli!“

Da streckte er sich mit langem Athemzug und schlug die Augen auf. Sie nickte ihm lächelnd zu. „Da schau, was ich Dir gekocht hab’ ... Du, das ist gut!“ Und als hätte sie ein Kind vor sich, führte sie den Löffel an ihre Lippen und that, als ob sie koste. „Aaah! Du, das ist was Feines! Magst es essen, ja? Gelt, ja?“ Er versuchte sich aufzurichten, doch kraftlos fiel ihm das Haupt zurück auf das Polster. „Aber geh’, bleib’ doch . . . thu’ Dich nur gar nicht plagen . . . schau, es geht ja!“ Sie rückte näher, hielt den Löffel an seinen Mund, und während er nahm und mühsam schluckte, zu ihr aufblickeud mit feuchten Augen, redete sie mit ihm, wie sie zu hundertmalen mit ihrem kleinen, süßen „Mimmidatzi“ geredet hatte. Ein Kind der Sorge war ihr an diesem Tag genommen worden – ein Kind der Sorge wieder gegeben.

Während sie ihm Löffel um Löffel reichte, merkte sie, daß auch in ihr der Hunger brannte – seit dem vergangenen Abend hatte sie keinen Bissen genossen. Aber im Kasten lag ja ein Laib Schwarzbrot . . . das war gut genug für sie. Alles andere mußte sie für Haymo bewahren. Verlassen durfte sie ihn nicht, und es konnten Tage vergehen, bis ein Mensch zur Hütte kam. Drunten wußte ja niemand um Haymos Schicksal – außer dem einen, der auch nicht reden würde auf der Folter! Ein Schauer rann ihr durchs Herz, als sie an Wolfrat dachte, als sie ihn wieder drohen sah mit erhobenem Beil – der Bruder wider die Schwester! Sie hatte ein Empfinden, als stünde sie vor einem bodenlosen Abgrund, so breit, daß keine Brücke hinüberreichte – und drüben stünde er. Und seltsam . . . es kam ihr vor, als wär’ es immer so gewesen! Als kleines Dinglein schon hatte sie ihn gefürchtet, dann aber war sie der Sepha von Herzen gut geworden und hatte deren Kinder geliebt, als wäre sie ihnen Schwester und Mütterlein zugleich.

Wie ein flüchtiger Schatten zog dieser Gedanke durch ihr Herz; er wich jedoch der hellen Freude darüber, daß Haymo die Suppe genossen hatte bis auf das letzte Tröpfchen. Nun lag er wieder stille, mit geschlossenen Augen.

Sie stellte den Napf auf den Herd zurück, schnitt sich ein Stück Schwarzbrot, trug einen hölzernen Block vor Haymos Lager und ließ sich darauf nieder. Nun durfte sie ruhen. Was sie zu thun vermochte, hatte sie gethan – alles Uebrige mußte der liebe Herrgott leisten unb Haymos junge kräftige Natur.

Während Gittli ihr Brot verzehrte, stiegen wieder all die finsteren, schmerzvollen und blutigen Bilder dieses Tages vor ihr auf, von der nächtigen Stunde an, da Sephas angstvoller Ruf sie aus dem Schlummer geweckt hatte. „Ach das Kindl, das Kindl!“ Solch ein liebes, süßes, unschuldsvolles Dinglein! Wie kann das nur geschehen? Gestern hielt man es noch in seinen Armen – man hat es geherzt und geküßt, hat sich die Seele warm gefreut an seinem holden Leben, hat mit dem Herzen sich hineingetrunken in die blaue, lautere Tiefe seiner Augen . . . und wo ist es heut’? Weg, fort, irgendwo . . . wohin keine Arme greifen und keine Sehnsucht reicht!

„Ach, und die Seph’! Mein Gott, mein Gott, die arme Seph’!“ Es legte sich auf Gittlis Herz wie ein schwerer Stein; sie schlug die Hände vor das Gesicht und weinte leise . . .

Da klang die lallende Stimme Haymps an ihr Ohr: „Gittli?“

Hastig fuhr sie sich über die Augen. „Ja, Haymoli, schau, ich bin ja schon bei Dir! Willst was?“

Er tastete mit kraftlosem Arm nach ihr, und als sie seine Hand mit beiden Händen umschloß, lallte er: „Gittli . . . vergelt’s Gott!“ Sie schüttelte den Kopf und lächelte ihn an. Sie hatte ja nur gethan, was sie mußte. Seine Hand ließ sie nicht wieder los. Und während sie nun so saß, Stunde um Stunde, bald in heißer Sorge zu ihm aufblickend, bald wieder verloren in finster unb sonnig durcheinanderschwimmende Gedanken, kam auch in ihr die Natur zu Recht und Geltung. Die Erschöpfung löste ihre Glieder, ihr Haupt sank auf den Rand des Lagers, und als sich draußen der Tag zum Abend wandelte, da schlief sie schon und athmete in langen Zügen.

Vor der Hütte gurgelte die rinnende Quelle, und leise rauschte der Bergwald in der Ferne.




12.

Am Morgen des Ostermontags trug Wolfrat Polzer sein entschlafenes Kind zur ewigen Ruhe. Da gab es keine Klagleute – Sepha lag fiebernd zu Bett, Lippele zählte nicht mit, Gittli fehlte, und von den Nachbarsleuten kümmerte sich keine Seele um den Tod, der im Hause des Sudmanns eingekehrt war. Wolfrat Polzer und auf seiner Schulter das stille Kind – das war der ganze Leichenzug; das starre Körperchen war in ein Leintuch gewickelt und lag auf einem Brett, welches Wolfrat mit eigener Hand zugeschnitten. Der Sudmann hatte schon schwerer getragen in seinem Leben, aber keine Last noch hatte ihn so tief gebeugt. Die Leute, denen er auf dem Weg zur Kirche begegnete, zogen die Kappen und schlugen ein Kreuz. Im Friedhof erwartete ihn der Totengräber beim ausgeworfenen Grab – in einem Winkel, nahe der Mauer.

„Ich will den Pater holen,“ sagte der Mann, „kannst das Kindl derweil hinunterlegen.“

Wolfrat blieb allein; er löste den Strick, mit dem der kleine Leichnam auf das Brett gebunden war, nahm das Kind auf seine Arme und stieg in die Grube; ein Stück Rasen gab er der kleinen Schläferin als Polster; zwei Steinplatten, die der Totengräber aus dem Boden geworfen hatte, stellte er wie ein Dach über das KÖpfchen des Kindes, damit ihm die fallende Erde nicht das Gesichtlein drücke. Nun sah er den Pater mit dem Bruder Meßner kommen und stieg aus der Grube.

Ein lateinisches Gebet, zwei sich kreuzende Striche mit dem tropfenden Weihwedel, und Pater und Meßner gingen wieder davon. Eine Armeleutleich’ ist immer schnell abgethan. Der Totengräber stieß die Schaufel in die Erde. „Kann ich anfangen?“

Wolfrat nickte. Doch als der Mann die ersten Schollen schwer in die Grube fallen ließ, faßte Wolfrat den Stiel der Schaufel. „So thu’ doch nicht so grob!“

„Ich muß mich tummeln, in einer Stund’ kommt schon wieder ein anderer. Jetzt sterben ja die Leut’ wie narrisch.“

„So laß mir die Schaufel!“

„Meinetwegen! Hast die drei Heller?“

Wolfrat griff in die Tasche und zog eine Hand voll blinkender Münzen hervor. „Da schau her,“ sagte er mit heiserem Lachen. „Geld hab’ ich wie Heu!“ Und statt der drei Heller, die der Mann nach dem klösterlichen Weisthum zu fordern hatte, bezahlte Wolfrat einen halben Schilling. „Nimm nur! Ein bißl was muß das Kindl doch auch davon haben . . .“ Wieder lachte Wolfrat; doch sein Gesicht verzerrte sich und seine Hände zitterten.

Kopfschüttelnd ging der Totengräber davon. „Ist das aber einer! Der kann lachen, wenn er sein Kindl eingrabt!“

Wolfrat faßte die Schaufel und legte Scholle um Scholle in das kleine Grab, sanft und achtsam. Bei der ersten Scholle sagte er: „Von der Mutter!“ ... bei der zweiten: „Vom Vater!“ ... bei der dritten: „Vom Lippele!" Dann schaufelte er schweigend weiter. Weshalb vermied er es, auch in Gittlis Namen dem Kinde eine Scholle als letzten Gruß zu spenden? Es sollen nach altem Brauch in ein sich schließendes Grab doch alle eine Scholle legen, die eines Stammes sind? War die Schwester für ihn tot, seit er in finsterer Stunde erfahren mußte, daß ihrem Herzen das Schicksal eines Fremden näher stand als Wohl und Weh ihres leiblichen Bruders? . . .

Der Hügel über dem Grab war vollendet. Wolfrat stieß die Schaufel in die Erde, und nun stand er lange, lange, den Kopf auf die Brust gesenkt, mit umflorten Augen, zwischen den zuckenden Fingern die Kappe drehend. Beten konnte er nicht. Er that noch einen schweren Athemzug und bedeckte das Haupt.

„Mußt nicht lang warten, Katzl! Paß nur auf . . . es kommt schon eins ums ander’ ... die Mutter, und ich, und . . .“ Nein, den Namen seines Buben brachte er nicht über die Lippen.

Als er sich nun vom Hügel wandte und das leere Brett unter den Arm nahm, kollerten ihm zwei schwere Thränen in den Bart. – Er wollte nicht über den Marktplatz gehen; dort waren ihm zu viele Leute. Auf einem Umweg suchte er das Haus des Taferlmalers. Er fand den Meister daheim. „Schreib’ mir den Namen auf das Brett,“ sagte er zu ihm.

„Geh’ – ist bei Dir eins gestorben?“

„Ein Kindl. Mariele hat’s geheißen! Mach’s nur recht schön . . . roth und blau! und mal’ auch ein Kreuz darunter. Ich zahl’s. In einer Stund’ komm’ ich wieder und hol’ das Brett.“

Von hier begab sich Wolfrat in das Kloster, um das Lehent zu entrichten. Er fand Herrn Schluttemann in Montagslaune ... das war von allen Launen des Vogtes die schlimmste. Denn am Sonntag, dazu noch an einem hohen Feiertag, pflegte Herr Schluttemann länger als gewöhnlich im Kellerstüblein des Klosters

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_330.jpg&oldid=- (Version vom 15.2.2021)