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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

fortrissen. Dann nickte er finster vor sich hin ... und warf einen anderen Zweig.

Er hörte vor dem Rauschen des Wassers die nahenden Schritte nicht und blickte betroffen auf, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte. „Herr Heinrich!“ Grüßend neigte er das Haupt und erhob sich.

„Was treibst Du hier?“ fragte lächelnd der Propst.

„Das Spiel meiner Tage.“

Herr Heinrich betrachtete den Pater mit ernsten Augen und schüttelte den Kopf. Dann sagte er: „Komm, laß uns zur Klause gehen, hier hört man ja kaum den Klang des eigenen Wortes.“ Er wanderte den Pfad zurück und Pater Desertus folgte. Vor der Klause ließen sie sich auf die Steinbank nieder. Warm schien die Sonne über ihnen; das gemilderte Rauschen des Wildbachs tönte wie Musik, draußen lag der glatte See, wie grüne Seide schimmernd, und über die steilen Wände, die ihn umzogen, hoben der Watzmann und die sieben Watzmannkinder ihre weißen Zinken in das reine Blau des Himmels.

„Ein schönes Plätzchen!“ sagte Herr Heinrich. „Hier bist Du wohl gerne?“

„Ja, denn ich lebe und störe doch die Freude keines anderen Menschen. Aber sagt, was führt Euch zu mir?“

„Muß ich nicht zu Dir kommen, da Du mich zu meiden scheinst?“

„Ich thu’ es um Euretwillen. Mein Blick verjagt das Lächeln und Ihr lächelt gerne.“

„Ja, Dietwald, seit ich erkennen lernte, daß Weinen zwecklos ist. Doch lassen wir das. Ich bringe Dir einen Gruß!“

Langsam hob Pater Desertus das Haupt. „So lebt noch ein Meusch, der Ursache hätte, meiner zu denken?“

„Der Kaiser!“

Ueber das bleiche Antlitz des Paters flog eine heiße Röthe, und es zuckte durch seine Glieder, als stünde ein Roß vor ihm, das es zu besteigen gälte, als hinge ein Schwert in der Luft, das er fassen müßte. Doch rasch ging diese Regung vorüber; er legte die Hand auf das Kreuz an seiner Brust und sagte mit versinkender Stimme: „Ich danke für den Gruß ... grüßet Herrn Ludwig wieder!“

„Er hat mir einen Brief geschrieben, ach, von Sorgen schwer! Der Papst setzt ihm bitter zu und schürt ihm Zwietracht an allen Ecken und Enden. Hätt’ unser Herr Kriegsmannen so viel wie Sorgen, er hätt’ ein Heer, wie es kein Kaiser noch gesammelt! Und sieh, Dietwald, in allen Sorgen denkt er Dein und läßt Dich grüßen und fragt nach Deinem Wohlergehen und hofft, daß Dein Kummer sich gemildert hätte. Er hat Dir den Tag von Ampfing nicht vergessen! Du hast ihm sein Reich erfechten helfen!“

„Und habe um jenes Tages willen mein eigen Reich verloren!“ brach es in wildem Schmerze von des Paters Lippen. „All meiner Güter bestes! Allen Werth und alle Sonne meines jungen Lebens, all mein Glück, all meine Seligkeit!“

„Dietwald!“ mahnte Herr Heinrich mit ernstem Worte, „darf ein Priester so sprechen?“

Pater Desertus hörte nicht; es loderte aus ihm hervor wie entfesseltes Feuer.

„Ach, wie war ich so stolz an jenem Tag, als ich vor Ludwig stand, ein Sieger unter Siegern, mit stumpfgeschlagenem Schwert, der Glanz meiner Rüstung erloschen im Blut der Feinde! Wie ein Falk flog meine Seele, und mein Herz wie eine sehnende Taube nach ihrem Nest ... heimwärts, heimwärts! Neun Tage noch hält mich die Pflicht, und jetzt ... jetzt geht es nach Hause, wie im Sturm, Tag und Nacht im Sattel. Das Roß bricht unter mir ... schon im Sturze greif’ ich nach einem anderen! Heim, heim, zu Weib und Kind! So hell und freudig hat mein Schlachtruf nie geklungen wie dieser Jubelschrei meines Herzens. Bei grauendem Morgen erreich’ ich den Bannwald meiner Burg. Jeder Baum, der an mir vorüberfliegt, ist mir ein Weiser zu meinem Glück! Nun ist ja Friede, nun darf ich ruhen ... ich sehe schon die heimliche Stube mit dem sonnigen Erker, ich sehe mich sitzen, mir zur Seite mein junges, holdseliges Weib, das von dunklem Gelock umfluthete Köpfchen an meine Schulter lehnend, zu mir aufblickend mit leuchtenden Augen ... und hier, auf meinem Knie, da schaukelt mein Knabe, macht große Augen und lauscht, denn ich erzähle vom Kaiser, von Fehde und Sieg ... und in der Wiege schlummert mein süßes Mägdlein und träumt in sein werdendes Leben hinein wie eine Knospe in den sonnigen Tag! Heim, heim, heim! Dort ist schon die Höhe im Wald, von der ich den Giebel meiner Burg erblicken muß. Jetzt hab’ ich sie erreicht ... ich spähe, spähe und spähe ... und sehe nichts! Hat sich mein Haus verrückt? Hat sich der Wald verwachsen? Ein zitterndes Ahnen befällt mich, ich peitsche mein Roß, ich reite, reite, reite ... dort ist der Saum des Waldes ... jetzt hab’ ich ihn! Ich hebe mich auf im Sattel ... mein Blick fliegt über das Thal ... und ich sehe ... sehe ...“

Schaudernd schlug er die Hände vor das Antlitz, und seine Stimme erlosch in dumpfem Stöhnen.

„Dietwald!“ mahnte Herr Heinrich tiefbewegt, „kannst Du Deinem Herzen nicht gebieten, so gebiete Deiner Zunge. Sie soll nicht nennen, was hinter Dir liegt, seit Du den Scheitel beugtest, um Gottes Knecht zu werden.“

Pater Desertus hörte nicht. Er ließ die Arme sinken und starrte mit brennenden Augen ins Leere. Und dann, als stünde geisterhaft ein Bild vor ihm, deutete er vor sich hin. „Das? Das ist mein Glück? Ein Haufen Trümmer, glühende Steine und rauchendes Gebälk? Das war mein Haus? Ja, ja ... es steht das Thor noch mit dem Wappen darüber: der weiße Islandfalk im blauen Feld! Und das? Sind das die Tauben, die im Thurm genistet? Tauben, die wie Raben krächzen, wie hungernde Geier schreien? Sie wittern das Futter schon ... wie die Aepfel um den Baum, so liegen die Leichen ... der dort mit dem grauen Kopf und der gespaltenen Stirn, das ist Reinold, mein Pförtner! Er hat immer gern geschlafen! So wach’ doch auf, Alter! Rede doch! Wo ist mein Weib, wo sind meine Kinder? Soll ich Dir eine Handvoll Asche zeigen? Sieh doch her! Ist das mein süßes Weib? Oder das? Und hier, der verkohlte Knochen? Das ist wohl mein schöner Knabe? Oder gar Dein Hund? Und dort, sieh’ nur, im Schutt, dort glimmt es noch! Das ist die Wiege? Ja?“

„Dietwald! Erwache!“ rief Herr Heinrich und rüttelte ihn am Arm.

Er schaute auf mit verlorenem Blick. „Erwache! ... das war das erste Wort, das ich hörte! ... Einen Tag, eine Nacht und noch einen Tag ... wie ein Bergmann nach Gold, so wühlte ich nach verkohlten Gebeinen ... und schrie nur immer: wer hat mir das gethan? Ich hatte doch keinen Nachbar, der mir grollte, ich hatte keinen Feind! In meinem Jammer wußt’ ich keinen Weg ... die Augen blind vom Weinen, bin ich gegangen und gegangen ... und an der Pforte des Klosters fiel ich nieder. Sie trugen mich in eine Zelle und riefen: ‚Erwache! Erwache!‘ Und ich blieb ... und ließ geschehen, was geschah!“

„Mit Schmerzen, Dietwald, hab’ ich es lang’ erkennen müssen: es war für Dich der rechte Weg nicht! Hättest Du doch Trost gesucht in Kampf und That, auf dem Schlachtfeld ... nicht in der Zelle!“

„Ich hoffte, ihn zu finden! Durch Tage und Nächte, Wochen und Jahre lag ich in brünstigem Gebet und schrie zu Gott aus tiefster Seele: laß mich vergessen! ... Ich schlug mit der Geißel meinen Rücken blutig, um durch die Schmerzen meines Leibes die Qual des Herzeus zu betäuben – – es half nicht, half nicht! Ich konnte nicht vergessen, konnte nicht hoffen! Wenn ich kämpfte um das Heil meiner Seele, so träumte ich den Kuß meines Weibes ... wenn ich den Himmel suchte, fand ich ihn in meiner Kinder Augen, die mir entgegenblickten aus der Luft meiner Zelle, aus jedem Blatt des heiligen Buches, aus jedem Bildwerk in der Kirche, aus jedem Abbild des Erlösers!“

„Und fandest Du nicht Trost bei Deinen Brüdern von denen mancher eine Welt von Schmerzen überwand, da er sich Gott ergab?“

„Meine Brüder? Sagt Ihr das im Ernste, Herr Heinrich? Ich meine doch, Ihr kennet Eure Chorherren!“

„Verdamme die Schwachen nicht! Kleine Seelen haben kleine Wünsche. Sieh diesen Berg an – es treibt das edle Wild nach seiner Höhe – die zufriedenen Hasen nisten hier unten im niederen Gebüsch. Und sie beide sind doch Geschöpfe aus eines Schöpfers Hand!“

„Meine Brüder? Hätt’ ich unter ihnen nur einen gefunden, der gewesen wäre, wie Ihr seid! Meine Brüder! Sie freuten sich der Wälder und Felder, die ich dem Kloster brachte ... und hatten für mich nur Worte: Gott hat es gegeben, Gott hat es genommen! Gott! Gott! Gott!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_335.jpg&oldid=- (Version vom 3.11.2021)