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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

danke für gütige Nachfrage. Nun, es geht mir den Umständen nach ganz gut ... ganz gut ... Darf ich mich nach der Gesundheit Ihres Herrn Onkels erkundigen?“

Nach dieser Einleitung kam es bald zu einer angenehmen Unterhaltung. Der Neffe des Landraths, der die Gutmüthigkeit und die Artigkeit seines Onkels hatte, mochte wohl den Auftrag erhalten haben, sich nach Stevenhagen umzusehen und sich etwas um ihn zu bekümmern, denn dank den Briefen von Frau Mathilde an Agathe, ihre Tochter, war es in N. kein Geheimniß mehr, daß Herr Stevenhagen sich in Berlin nicht glücklich fühle. Jedenfalls zeigte sich Herr Harry von Salwitz bemüht, den Kommissionsrath zu unterhalten, was ihm auch vorzüglich gelang. Nach einer kleinen Weile sagte er:

„Ich werde Ihnen nächstens ’mal schreiben; wir wollen irgendwo zusammen essen und können dann den Abend miteinander verbringen; Ihre Frau Gemahlin wird sich uns natürlich anschließen. Paßt Ihnen das?“

Es paßte Herrn Stevenhagen ganz vorzüglich, und er nahm die Einladung dankend an. Als die beiden aufgestanden waren und sich langsam der Thür näherten, blieb Harry, noch immer sprechend, an einem Arbeitstisch stehen, auf dem weiter nichts lag als eine Briefmappe, die nothwendigsten Schreibmaterialien und in einer hübschen, alten Porzellanschale einige Visitenkarten – die des Herrn Kommissionsraths selbst. Harry hatte scharfe Augen, die sonderbaren Karten fielen ihm auf, und er entzifferte ohne Mühe, was darauf stand. Ein kaum merkliches Lächeln überflog seine Züge.

„Lieber Herr Stevenhagen,“ sagte er – er war mit seinem Landsmann schnell vertraut geworden – „sind das Ihre Karten?“ Und er nahm eines von den bunten Dingern in die Hand.

„Jawohl,“ antwortete der Kommissionsrath, etwas verlegen, ohne eigentlich selbst zu wissen, warum.

„Hm,“ meinte Harry, „geben Sie die lieber nicht ab. Lassen Sie sich andere Karten machen, wie alle Welt sie hier benutzt.“

„Die Karten sind ein Geschenk meines alten Freundes, des Doktors Nehring, den Sie wohl auch kennen.“

„Jawohl kenne ich ihn, den vortrefflichen alten Herrn! Ich habe ihn vorgestern noch bei meinem Onkel gesehen. Aber wissen Sie, lieber Herr Stevenhagen, der gute Doktor ist auch seit Menschengedenken nicht aus der Provinz herausgekommen und weiß nicht, wie wir hier leben. Zu Hause sind diese Karten wunderschön und ganz in der Ordnung, aber nach Berlin passen sie nicht.“

„Warum denn nicht, wenn ich fragen darf?“

„Ja, was soll ich Ihnen sagen? – Es ist nun einmal ‚Stil‘, daß vornehme Leute solche Titel, die nicht auf eine amtliche Thätigkeit hinweisen, mit ihren Orden zu Hause lassen und nur bei besonderen Gelegenheiten damit hervortreten. Setzen Sie einfach auf Ihre Karten: ‚Konstantin Stevenhagen‘, das genügt für die, die Sie kennen; und diejenigen, die Ihre Bekanntschaft erst später machen, werden auch ohne Ihren Titel auf der Karte bald genug erfahren, mit wem sie es zu thun haben.“

Darauf schüttelten sich beide noch die Hände, und Harry von Salwitz entfernte sich.

Es war gut, daß Frau Mathilde der Unterhaltung nicht beigewohnt hatte; sie würde zwar nichts gesagt haben, was ihren lieben Konstantin hätte kränken können, aber dieser würde auch ohne eine Aeußerung von ihr ihre Gedanken verstanden haben: „Also um dieses traurigen ‚Kommissionsraths‘ willen, den mein Mann, wenn er für vornehm gelten will, nicht einmal auf seine Karte setzen soll, haben wir Haus und Hof, Kind und Enkelkinder, alles, was uns lieb und nahe war, verlassen und sind nach Berlin gezogen? O Thoren, große Thoren, die wir gewesen sind!“ so würde Frau Mathilde gedacht haben, und so dachte auch Herr Konstantin Stevenhagen in seinem Innern. Er fühlte sich beschämt und wahrhaft unglücklich.

Am nächsten Tage erhielt er einen sehr freundlichen Brief von Harry von Salwitz, der ihm anzeigte, er sei in dienstlichen Angelegenheiten plötzlich von Berlin abberufen worden und werde erst in einigen Monaten dorthin zurückkehren. Er bedaure dies lebhaft, da er dadurch verhindert sei, die angenehme Bekanntschaft, die er gestern angeknüpft habe, sogleich so zu pflegen, wie er es gewünscht hätte; er werde nicht unterlassen, Herrn und Frau Stevenhagen nach seiner Rückkehr wieder aufzusuchen, und halte sich den beiden einstweilen bestens empfohlen.

Auf dem Umschlag stand einfach. „Herrn Konstantin Stevenhagen“; der artige, junge Herr hatte es nicht einmal der Mühe für werth gehalten, den kostbaren „Kommissionsrath“ mit darauf zu schreiben. Am Abend konnte Stevenhagen nur wenig essen, die Nacht verlief unruhig, am nächsten Morgen befand er sich unwohl.

„Was fehlt Dir?“ fragte Frau Mathilde besorgt.

Stevenhagen wußte darauf keine bestimmte Antwort zu geben. Es that ihm nichts weh; er fühlte sich nur müde, niedergeschlagen, der Kopf war ihm schwer. „Es wird schon vorübergehen,“ beruhigte er seine Frau.

Aber es ging nicht vorüber; Appetitmangel und Schlaflosigkeit dauerten fort, und nach wenigen Tagen erklärte Stevenhagen eines Morgens, er wolle lieber im Bette liegen bleiben. Nun bestand Frau Mathilde darauf, daß ein Arzt gerufen werde; davon wollte aber Stevenhagen nichts hören.

„Ich will keinen Berliner Arzt,“ sagte er, und nach einer Pause setzte er hinzu: „Ja, wenn wir Nehring hier hätten, das wäre etwas anderes, der kennt mich!“

Das war wie eine Erleuchtung für Frau Mathilde, und sie handelte danach. –

Als Stevenhagen am späten Nachmittag aus einem leichten Schlummer erwachte, in den er gesunken war, sah er seine gute Mathilde neben sich stehen, die ihm freundlich zulächelte und sagte. „Nun sei aber auch gut, Alterchen! Er ist da!“

„Wer?“

„Nun, Nehring natürlich. Ich habe ihn telegraphisch gerufen.“ Und ehe Herr Stevenhagen darauf antworten konnte, trat der treue, alte Freund in das Zimmer. Er näherte sich dem Bette, drückte dem Kranken die Hand und sagte schnell und in sichtbarer Erregung:

„Alles Vergangene sei vergessen, Stevenhagen! Wir sind ein halbes Jahrhundert lang als gute Freunde nebeneinander hergegangen und wollen nicht wegen einer Lappalie in unseren alten Tagen noch Feinde werden.“

„Mein guter Wilhelm,“ murmelte Stevenhagen gerührt.

Darauf begann nun der Doktor den Kranken auszufragen und zu untersuchen. Dann, während Herr Stevenhagen ihn aufmerksam und ängstlich beobachtete, sagte er:

„Die Sache ist ganz einfach: Du brauchst Luftveränderung, und zwar sofort. Die dicke, ozonarme Luft der großen Stadt verträgt sich nicht mit Deiner Konstitution und würde Dich vor der Zeit alt und gebrechlich machen und unter die Erde bringen.“

Stevenhagen hörte mit weit geöffneten Augen an, was sein wiedergefundener Freund sagte.

„Verstehst Du, Alterchen,“ sagte Mathilde, „Luftveränderung ist es, was Du brauchst.“

„Jawohl, jawohl; ich habe sehr gut verstanden!“

„Und wo sollen wir hingehen, lieber Doktor?“ fragte Frau Mathilde, „nach Heringsdorf, Norderney, in den Schwarzwald?“

„Aber liebe, gute Frau Stevenhagen, was fällt Ihnen ein?“ unterbrach sie der Doktor. „Wo, so frage ich Sie, hat sich Ihr Mann fünfundfünfzig Jahre lang wohl und munter wie ein Fisch im Wasser befunden?“

„Zu Hause,“ antwortete Mathilde schüchtern.

„Nun natürlich, zu Hause! Und was beweist das? Daß ‚zu Hause‘ der einzige Ort ist, den ein gut unterrichteter und gewissenhafter Arzt in diesem Falle in Vorschlag bringen und anempfehlen muß; alles andere wäre ein Fehler, möglicherweise ein folgenschwerer Fehler. Konstantin muß wieder nach Hause, und zwar lieber heute als morgen. Er muß um sechs Uhr morgens aufstehen, um eins zu Mittag essen, täglich eine Stunde auf dem Wall spazieren gehen, seine ‚Borsdorfer Aepfelchen‘ wieder zu sehen kriegen, von sechs bis neun Uhr abends kegeln oder l’Hombre spielen, meinetwegen auch arbeiten, und um zehn Uhr zu Bett gehen. Ich stehe dafür ein, daß ihn eine solche Lebensweise in vier Wochen an Geist und Körper wieder so kerngesund macht, wie er es sein Leben lang bis zu seiner Uebersiedlung nach Berlin gewesen ist, und wie er es noch heute sein würde, wenn er ‚zu Hause‘ geblieben wäre.“

Stevenhagen hielt es für seine Pflicht, sich etwas gegen die Ausführung dieser Verordnungen zu sträuben; aber im Herzen hatte er schon nachgegeben, und tags darauf erklärte er sich thatsächlich bereit, nach N. zurückzukehren. Frau Mathilde

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 378. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_378.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2021)