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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

bestand darauf, er müsse sofort vorausreisen und machte sich anheischig, den Umzug allein zu bewerkstelligen. Und vierundzwanzig Stunden später kehrte Stevenhagen dreiviertel geheilt, mit dem Doktor nach Hause zurück.

*  *  *

Es war wieder Frühling gewordeu, und Herr Konstantin Stevenhagen hatte schon seit beinahe einem halben Jahre seine alte Lebensweise wieder aufgenommen. Er ging zwar nicht mehr so regelmäßig wie früher in den Laden, wo Fritz jetzt in aller Bescheidenheit die Herrschaft führte, aber er bekümmerte sich tagsüber genügend um das Geschäft, um sich die Zeit vertreiben zu können und des Abends hatte er wie in früheren schönen Tagen seine regelmäßige Partie l’Hombre und seine regelmäßige Partie Kegel. Der Rentmeister, der eine Zeitlang seinen Platz eingenommen, hatte sich in der Gesellschaft der drei alten Herren niemals ganz heimisch gefühlt. Er hatte es sich ohne jede Empfindlichkeit gefallen lassen, wieder durch Stevenhagen ersetzt zu werden. Während der ersten zwei Abende herrschte in der Spielgesellschaft eine gewisse frostige Befangenheit, die sich namentlich in gesuchter Höflichkeit und in der Milde äußerte, mit der ein Spieler den anderen auf einen begangenen Fehler aufmerksam machte und mit der sich dieser gegen den an ihn gerichteten Vorwurf vertheidigte. Man machte eben vor dem wiedergefundenen alten Freunde noch „Umstände“ wie vor einem angesehenen Fremden; aber schon in der zweiten Woche begannen die guten Kameraden, sich in hergebrachter Weise nach einem jeden Spiele heftig zu zanken, und sehr bald war der frühere erfreuliche Zustand, der als ein Zustand andauernden Streitens bezeichnet werden konnte, in alter Herrlichkeit wieder hergestellt. Stevenhagen, von Frau und Tochter gepflegt, von den „Borsdorfer Aepfelchen“ regelmäßig besucht und in Anspruch genommen, wuchs von neuem in sein früheres Leben hinein und bekam seine rothen, festen Wangen und den freundlichen Blick seiner hellen ehrlichen Augen wieder. Doch nagte ein geheimer Kummer an ihm, ein Kummer, über den er noch mit niemand zu sprechen gewagt hatte. Allmählich wurde nämlich dem guten Manne klar, daß er sich geraume Zeit lang recht thöricht benommen hatte. Frau, Tochter, Schwiegersohn und Freunde hatten seine Thorheit monatelang geduldig und liebevoll ertragen und selbst als er in seiner Verblendung die Heimath verlassen und auf seine ganze Vergangenheit und seine besten Freunde wie auf etwas Werthloses freiwillig und anscheinend ohne jedes Bedenken verzichtet hatte – selbst da waren sie in ihrer treuen Anhänglichkeit nicht von ihm gewichen. Mathilde war ihm weinend, aber ohne ein Wort des Vorwurfs nach Berlin gefolgt und würde es bis zum Tode dort, in dem freudenlosen Leben, das er ihr geschaffen hatte, ausgehalten haben. Und der Doktor war beim ersten Rufe an Stevenhagens Lager geeilt, um sich mit ihm zu versöhnen, ihn zu heilen und nach N., zu seinem Glücke zurückzuführen. Konstantin empfand jetzt seine Thorheit wie eine Sünde, durch die er alle, die seinem Herzen nahe standen, schmerzlich verletzt habe. Und dieses schwere Vergehen wurde ihm von denen, die darunter gelitten hatten, ganz und rückhaltlos verziehen, ohne daß ein Wort des Vorwurfs über ihre Lippen gekommen wäre! Mathilde begrüßte ihn mit dem zufriedenen Lächeln aus den Tagen ihres ungetrübten Glücks, und das Andenken an die öde und traurige Berliner Zeit schien ganz aus ihrem Gedächtniß verwischt zu sein. Agathe und Mertens traten ihm mit hergebrachter Vertraulichkeit und Ehrerbietung entgegen und seine alten Spielkameraden, der Doktor an der Spitze, hatten niemals auch nur die leiseste Anspielung gemacht auf die große Thorheit im Leben Konstantin Stevenhagens, auf seine Uebersiedlung nach Berlin. Wie leicht wäre es ihnen gewesen, ihn spöttelnd „Herr Kommissionsrath“ zu nennen! Aber nein! Das Wort kam nicht über ihre Lippen, und auch der Landrath hatte aufgehört, ihn „Herr Kollege“ anzureden und wandte sich mit dem alten vertraulichen „lieber Stevenhagen“ an ihn. Es nagte an Konstantins Herzen, daß er soviel zarte Rücksichten, soviel Liebe und Freundschaft empfangen sollte, ohne sich dafür erkenntlich zu zeigen. Sein angeborener gesunder Stolz regte sich in ihm. Er fühlte sich unter einer Schuld – einer Schuld der Dankbarkeit. Er wollte sie bezahlen. Der Inhaber der Firma „Samuel Stevenhagen Söhne Nachfolger“ mußte sich in jeder Beziehung „solvent“ zeigen.

Eines Tages, als die l’Hombrepartie im regelmäßigen Kreislauf im Stevenhagenschen Hause stattfinden sollte, wurde Frau Mathilde von ihrem Manne aufgefordert, das Abendbrot diesmal reichlicher und sorgfältiger zu veranstalten, als es bei ähnlichen Gelegenheiten Brauch war. Er selbst ging in den Keller und holte eine Anzahl Flaschen seines allerbesten Weines herauf, den er seinen Gästen nur bei besonderen Festlichkeiten vorzusetzen pflegte. Auf einen fragenden Blick Mathildens antwortete er, es handle sich um eine Ueberraschung für die Freunde; sie solle ihn nur gewähren lassen; alles werde sich im Laufe des Abends zu ihrer Befriedigung aufklären. – Und die Aufklärung kam.

Als die vier alten Spielgenossen nach beendeter Partie an dem Eßtisch Platz genommen und den aufgesetzten Speisen und Getränken behaglich zugesprochen hatten, klopfte der Wirth plötzlich an sein Glas. Man sah ihn erstaunt an, denn es verstieß gegen die zu fester Regel gewordene Gewohnheit, den gewöhnlichen Spielgesellschaften durch Toaste einen feierlichen Anstrich zu geben; aber Konstantin Stevenhagen ließ sich dadurch nicht beirren. Er hatte sich erhoben und begann mit bewegter Stimme:

„Liebe Freunde“ – und sogleich stockte er wieder. Dann, mit sichtlicher Anstrengung, fuhr er schnell und fließend fort, als sage er etwas auswendig Gelerntes her: „Es werden in den nächsten Tagen drei Jahre, da hattet Ihr Euch mit vielen anderen meiner Freunde und Bekannten in diesem Hause versammelt, um mir zu Ehren die Feier des hundertjährigen Bestehens meines Geschäftes zu begehen. Ihr waret gekommen, mir Freude zu machen, und Ihr machtet mir Freude ... und ... und ... ich habe Euch dafür schlecht gedankt.“

Reden halten war Konstantins starke Seite nicht. Die Beobachtung dieser Thatsache drängte sich ihm in diesem Augenblick zum ersten Male auf, denn er hatte noch niemals in seinem Leben den Versuch gemacht, zu „reden“. Eine große Versammlung fremder Menschen hätte ihn nicht mehr einschüchtern können als die vier Leute, seine besten Freunde und seine Frau, es thaten, sobald er sich in wohlgesetzter Rede an sie gewandt hatte. Es flimmerte ihm vor den Augen, der Schweiß trat ihm auf die Stirn – er sah zum Erbarmen aus. Das konnte keiner der Zuhörer lange Zeit ertragen, und alle empfanden es wie eine Erlösung, als Nehring, wie im Zorne, dem verlegenen Manne zurief:

„Was fällt Dir ein, Stevenhagen? Setz’ Dich, Mann, und sei still! Hast Du aber noch etwas auf dem Herzen, was Du absolut sagen willst, nun so sprich, wie wir gewohnt sind, Dich sprechen zu hören!“

Stevenhagen that sofort, wie der Doktor ihn geheißen hatte, und setzte sich nieder. Er athmete tief und erleichtert auf. „Du hast recht, Nehring,“ sagte er, „aber vergönne mir noch zwei Worte ... zu meiner Befriedigung ... Ihr verlangt kein Schuldbekenntniß von mir ...“

„Sicherlich nicht!“

„Nun ich mache auch keines; sei nur nicht so aufgeregt, Nehring! Sieh’, wie ruhig ich bin – Ihr verlangt kein Schuldbekenntniß ...“

„Nein!“

„Das weiß ich ja. Ich streite gar nicht mit Dir. So unterbrich mich doch nicht ... aber ich muß Euch sagen ... ja, was wollte ich eigeutlich sagen ...“

„Das möchte ich auch wissen!“

„Ich weiß es! Laß mich nur reden ... Ich wollte sagen ... ich wollte sagen ...“

„Du kriegst es ja doch nicht heraus,“ nnterbrach ihn der Doktor wieder, „und deshalb will ich es für Dich thun. Du willst uns sagen, daß wir Deiue guten Freunde sind.“

„Ja, das seid Ihr!“ rief Konstantin aufspringend und mit leuchtenden Augen um sich blickend. „Ihr seid meine guten treuen Freunde, denen ich für alle Beweise der Liebe und Freundschaft, die Ihr mir im Leben, namentlich aber seit einem halben Jahre gegeben habt, von ganzem Herzen dankbar bin. Das und nichts anderes wollte ich Euch sagen, und nun habe ich es endlich gesagt, obschon Nehring gethan hat, was er nur konnte, um mich daran zu verhindern.“ – – –

Seitdem sind fünf Jahre vergangen. Stevenhagen denkt noch keineswegs ans Sterben, aber er hat bereits testamentarisch bestimmt, daß die Firma des alten Hauses, auf das er stolzer als je ist, nach seinem Tode unter der Herrschaft seines Enkels,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 379. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_379.jpg&oldid=- (Version vom 8.7.2023)