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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Zeiten hätte still gestanden, und alles Geschehene wär’ ein böser Traum gewesen, der sich nun löset von mir, da ich erwache. Denn dieses Kind, Herr Henrich ... wo find’ ich nur Worte für das Wunder ... ich suche auf der Erde: so gleichet keine Blume ihrer Schwesterblume . . ich suche am Himmel: so gleichet kein Stern dem Stern wie dieses Kind an Haar und Augen, an Antlitz und Gestalt, an Reiz und Wesen meinem Weibe! Und so wie dieses Mädchen jetzt ... im Kleid des Dorfes, mit gelöstem Haar, den Kranz von Veiglein über der Stirn ... so trat mir Judita entgegen, als ich in Seligkeit den ersten Kuß auf ihre Lippen drückte!“ In sich versinkend, schlug er die Hände vor das Antlitz.

„Dietwald!“ rief Herr Heinrich in tiefer Erregung. „Sage mir ...“ Er verstummte wieder. Es war ja das Unmogliche, was er dachte! Und durfte er aus der schmerzvollen Seele dieses schwer Gebeugten einen Wahnsinn reißen, indem er einen anderen Wahn in ihr erweckte? Er trat auf ihn zu und strich ihm langsam mit der Hand über den Scheitel. „Vergieb mir, Dietwald, daß ich Dich falsch verstanden, daß ich Dich aus der Pein in die Marter stieß, als ich Dich hierhergeführt, statt daß ich weite Meilen zwischen Dich und diese Hütten gelegt hätte! Du darfst nicht bleiben! Nicht um Deinetwillen und nicht des unschuldigen Kindes wegen, das Du erschreckt hast bis ins innerste Herz.“

Pater Desertus nickte vor sich hin.

„Weißt Du den Weg nach Deiner Klause zu finden?“

„Nein, Herr! Aber fort, fort, nur fort!“

„So warte hier – ich will Dir den Walti senden! Er soll Dir Deinen Basthut und das Griesbeil bringen und soll Dich führen. Auch eine Fackel soll er mitnehmen, denn Ihr kommet in die Nacht hinein. Und wenn Du in der Klause bist, halte den Buben bei Dir, er plaudert gern, und laß die Fackel brennen die ganze Nacht. Beten kannst Du nicht mit diesem Irrsinn im Herzen! Und schlafen noch minder! Nimm die Schnüre und beginne ein Netz zu flechten mit engen Maschen ... ich komme morgen vor Abend zu Thal ... eine Klafter hoch und drei Klafter lang soll das Netz gerathen sein, bis ich komme ... und weniger will ich nur finden, wenn Dich der Schlaf befiel. Bessere Hilfe weiß ich Dir nicht als: schaffen, schaffen und schaffen, bis Dir die Augen sinken und die Arme erlahmen. Und übermorgen sollst Du reisen!“

Sie reichten sich die Hände.

„Ich gehorche!“ flüsterte Pater Desertus.

Und Herr Heinrich ging, an der Wende des Pfades noch einmal zurückschauend mit bewegtem Blick. Als er das Herrenhaus erreichte, kam Frater Severin aus der Jägerhütte. „Wo ist der Walti?“

„Ich habe den Buben um Holz geschickt,“ sagte der Frater, „die Wellen[1] sind ausgegangen.“

„Und das Mädchen?“

„Ich glaub’, sie hockt in der Küche. Was die nur hat! Als wär’ die Trud hinter ihr, so ist sie gerannt gekommen, und vor Haymos Lager ist sie hingesunken und hat in einem fort geweint und kein Wort geredet, was wir sie auch gefragt haben. Ich hab’ schon gemeint, der Haymo fahrt aus der Haut, so hat er’s getrieben mit der Dirn’. Aber sie hat ihm nicht Red’ gestanden, und weil er gar nicht hat aufhören wollen mit fragen, hat sie einen Schluchzer gethan, als fiel’ ihr das Herz hinunter, und ist zur Thür hinausgeschossen. Der Haymo hat gleich aufspringen wollen und ihr nachlaufen. Aber ich hab’ ihn gehalten, und weil ich gesehen hab’, daß die Dirn’ ohne die Veiglein gekommen ist, hab’ ich ihm eingeredet, daß sie so weinen thät’, weil sie die Blümeln verloren hat. Da drüber hat er sich dann schier wieder gefreut!“

Herr Heinrich trat in die Küche und sah das Mädchen verschüchtert in einem Winkel sitzen.

„Gittli!“

Sie folgte ihm zögernd in die Herrenstube.

„Wo hast Du denn Deine schönen Blumen?“

„Verloren!“ lispelte das Mädchen. „Sie müssen mir heruntergefallen sein, wie ... wie er mich ...“ Sie verstummte.

„Du bist wohl arg erschrocken?“

Schweigend stand sie, mit gesenkten Lidern.

„Vergiß es, Gittli! Weißt, der Pater ist ein armer, kranker Mann ... krank im Herzen.“

Sie schaute mit großen Augen zu Herrn Heinrich auf.

„Denk’ nur, ehe der Pater in das Gotteshaus getreten ist, war er ein Rittersmann, hat eine junge, schöne Frau gehabt und holde Kinder und hat all seine lieben Leut’ verlieren müssen in einer einzigen Nacht!“

Gittlis Augen wurden feucht. „O mein Gott!“

„Weißt, und seit der Zeit ist er manchmal so träumig wie ein Krankes ... und wie Du jetzt gekommen bist, da hat er völlig gemeint, seine liebe Frau thät’ ihm erscheinen ...“

„Wohl wohl,“ fiel Gittli hastig ein, „er hat ja auch einen Namen gerufen, wie ich gar nicht heiß’.“

„Siehst Du!“

„Mein, der thut mich aber jetzt dauern!“ Sie streckte Herrn Heinrich in tiefer Bewegung die Hand hin. „Saget ihm doch nur, daß ich ihm nimmer harb sein will, aber gar nimmer!“

„Ja, mein Kind, das sag’ ich ihm, und das wird ihn auch freuen. Mußt auch mit keinem davon reden, weißt, die Leut’ thäten ihn drum anschauen.“

Sie schüttelte das Köpfchen.

„Aber komm’, so setz’ Dich doch ein’ Weil’! Ich bin ja ganz allein, wir wollen ein wenig haimgarten!“

Schüchtern setzte sie sich auf die Bank und strich an ihrem Röcklein die Falten glatt.

„Wie alt bist Du denn, Gittli, sag’!“

„Im letzten Anderherbst[2] bin ich fünfzehn Jahr’ geworden.“

„Fünfzehn Jahr’?“ wiederholte Herr Heinrich. Und nach kurzem Besinnen fragte er: „Weißt Du nicht auch den Tag, an dem Du geboren bist?“

„Wohl wohl, Herr, am heiligen Pelagitag.“[3]

Betroffen blickte der Propst das Mädchen an. Am heiligen Pelagitag ... das war zehn Tage nach der Ampfinger Schlacht und einen Tag nach dem Brande der Burg Falkenberg! Hier hatte die Natur ein seltsames Spiel getrieben, oder ... tief aufathmend schüttelte er den Kopf und fragte: „Wo seid Ihr denn daheim gewesen?“

„In Dorfen[4], Herr, aber wir haben nicht im Ort gehauset. Unser Häusl ist ganz einödig im Wald gestanden, denn der Vater hat gekohlet.“

„Kannst Du Dich denn noch besinnen auf Vater und Mutter?“

Sie schaute ihn mit feuchten Augen an. „Kann denn eins Vater und Mutter vergessen? Ich bet’ ja doch alle Tag’ für sie, und da seh’ ich’s allweil wieder dastehen vor mir: den Vater, der wie ein Baum gewesen ist, wenn das Mies daran hängt, ja, so einen langen Bart hat er gehabt, und wisset, Herr, er hat schon ein lützel gegrauelet ... aber das Mutterl, ja, das hat noch allweil Zöpf’ gehabt wie ein Junges. Und so gut schauen hat’s können, und eine Hand hat’s gehabt ... wenn’s einen damit angerührt hat, das ist einem völlig gewesen wie an einem Abend, wenn’s recht warmelet und es streicht ein Lüftl an einen hin. Und soviel, soviel lieb hat’s mich mögen! Ich glaub’, es hat noch keins auf der Welt ein so gutes Mutterl gehabt wie ich!“ Sie fuhr sich mit dem Arm über die Augen.

Herr Heinrich erhob sich, trat auf Gittli zu und nahm ihre Wangen in seine Hände. „Das Mutterl nimmt Dir keiner mehr, und wenn er Dir auch ein anderes dafür geben könnte!“

Sie schaute ihn fragend an, denn sie verstand ihn nicht.

Frater Severin erschien. „Der Bub’ ist daheim!“

„Er soll kommen!“

Walti trat in die Stube, und während Herr Heinrich leise mit ihm redete, erhob sich Gittli und schlich an der Wand entlang zur Thür. Draußen fuhr sie sich noch einmal über die Augen, dann ging sie der Jägerhütte zu. Doch ehe sie diese erreichte, blieb sie stehen, als besänne sie sich ... und nun eilte sie dem Pfad zu, der in das Steinthal führte. Sie wollte die verlorenen Veilchen suchen.

Als sie die Wende des Steiges erreichte, fuhr sie erschrocken zurück. Dort auf dem Stein saß immer noch der Pater; und in seinen Händen hielt er ihr Kränzlein und blickte darauf nieder mit regungslosen Augen. Jetzt hörte sie auch Tritte hinter sich .. dort kam der Bub’ mit zwei Bergstöcken und einer Kienfackel. Lautlos schlüpfte sie in einen Busch und wartete. Sie hörte, wie die beiden einige Worte wechselten und sich entfernten.

  1. Kleine Bündel aus dürren Reisern, in welche beim Feuermachen der brennende Schwefelfaden gesteckt wurde.
  2. Oktober. – Im 14. und 15. Jahrhundert lautete in Ober- und Niederbayern die Reihenfolge der Monate: Jenner, Hornung, Mertz, Abrill, May, Andermay, der Augst, der ander Augst, der Herbst, der ander Herbst, der Winter, der ander Winter.
  3. Den 9. Oktober.
  4. Fünf Wegstunden südlich von Landshut.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 398. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_398.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2021)