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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Wie sich der isländische Dichter in der von Schneegestöber und Stürmen durchbrausten Winterfinsterniß die Sonnenblicke der Poesie gewahrt hat, so weiß auch der Isländer im allgemeinen sich auf mancherlei Weise das stille Leben im einsamen Norden zu erheitern. Dieselben Tage, die wir feiern, werden zum größten Theile auch auf Island festlich begangen, besonders Weihnachten, wenn es dort auch an einem strahlenden Christbaum fehlt; denn Island ist ein waldloses Land, von Tannen vollständig entblößt, und neben der Birke, die aber stets Zwergholz bleibt, findet sich hier und da nur die Eberesche, die eine etwas bedeutendere Höhe erreicht. Auch das Tanzen ist auf Island bekannt, und nicht allein in der 3000 Einwohner zählenden Hauptstadt Reykjavik und auf den Handelsplätzen, sondern ebenso draußen auf dem Lande unter den Bauern, bei ihren Festen und Hochzeiten wird in der Regel getanzt. Sogar Konzerte werden bisweilen in Reykjavik gegeben, wie überhaupt Musik, namentlich das Klavierspielen, gern getrieben wird.

Eine ausgesprochene Vorliebe haben die Isländer für den – Schnupftabak. Sie kaufen Tabak in Rollen und Blättern, zerreiben ihn selbst und führen ihn in Gefäßen bei sich, welche an Form und Größe mittelmäßigen Pulverhörnern gleichkommen. Zu Hause streuen sie davon in langen Zeilen auf die Hand, gerade wie es die Bewohner des bayerisch-böhmischen Waldgebirges mit dem sogenannten Presiltabak machen. Auf der Reise, wenn sie zu Pferde sind, bringen sie mit zurückgeneigtem Kopfe die Mündung des Hornes unmittelbar an die Nase. Auf diese Weise verlieren sie keinen Tabak, was beim Reiten umsomehr der Fall sein würde, als in Island fast beständig ein heftiger Wind weht.

Eine ganz eigenthümliche, aber echt altgermanische schöne Sitte – die manchem von uns freilich nicht immer behagen, aber manchem vielleicht auch recht angenehm sein würde – ist die der Begrüßung auf Island. Sowohl beim Zusammentreffen als beim Abschiednehmen ist ein herzlicher Kuß auf den Mund, ohne Unterschied des Ranges, des Alters und des Geschlechts, die einzige Art der Begrüßung, welche die Isländer unter sich kennen. Nur in der unmittelbaren Nachbarschaft der Faktoreien begrüßt der Isländer einen Fremden, den er im Vergleich zu sich selbst als etwas Vornehmeres betrachtet, dadurch, daß er seine rechte Hand auf den Mund oder die linke Seite der Brust legt und dann eine tiefe Verbeugung macht. Wenn man eine Familie auf Island besucht, muß man die Mitglieder derselben nach ihrem Range und Alter begrüßen, indem man mit dem höchsten anfängt und dann, so gut es sich beurtheilen läßt, in richtiger Abstufung bis zu dem niedrigsten hinabsteigt, selbst die Dienstboten nicht ausgenommen. Beim Abschied aber geschieht dasselbe in umgekehrter Ordnung: man fängt bei den Dienstboten an, geht dann zu den Kindern über und endigt mit der Hausfrau und dem Hausherrn.

Damit nehmen auch wir für heute Abschied von dem kleinen, unbeachteten Volke im hohen Norden. Mögen diese Zeilen dazu beitragen, mehr und mehr Theilnahme für jenes „äußerste Thule“, für Island und sein Volk zu wecken!


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Lolas Töchter.

Novelle von Leo Hildeck.

Bitte, kommen Sie sofort; brauche Ihre Hilfe in persönlicher Angelegenheit! Lola Winter.“ 
Mit sehr gemischten Gefühlen blickte Helmuth auf das Berliner Telegramm, das auf dem breiten Schreibtisch des gediegen eingerichteten Privatcomptoirs lag. Die braunen Augen, in denen es einen Augenblick aufblitzte, schienen zu sagen: Ich möchte wohl, aber gescheiter wär’s, ich ginge nicht!

Natürlich ging er trotzdem. Eine Stunde später saß er in dem Hamburg-Berliner Schnellzug. Er war niemals ein Odysseus gewesen, der sich vorsichtig an den Mast binden ließ, wenn die Sirenen sangen. Immer hatte er sich ins Feuer gewagt – und sich manchmal verbrannt. Vorzüglich an diesem Feuer, welches Lola hieß. Manches Jahr war verflossen, seit er mit seiner erwachenden Leidenschaft für sie gerungen hatte. Ihr Gatte war, wie Helmuth selbst, ein großer Hamburger Geschäftsmann gewesen, ein unruhiger Geist und toller Spekulant, und seine bildschöne junge Frau hatte es meisterlich verstanden, ihm und seinen über Nacht verdienten Millionen die Honneurs zu machen. Solange diese Millionen vorhielten oder doch vorzuhalten schienen, gab es sogar Frauen, welche Lola Winter alles verziehen: ihre Schönheit, ihren Geist, ihr Glück – selbst ihre Koketterie. Denn sie besaß Takt und Anmuth genug, um Nachsicht zu finden. Außerdem – man unterhielt sich eben „himmlisch“ bei Winters. Die Geselligkeit dieses Hauses war glänzend ohne den geringsten Beigeschmack von Protzenthum; auch die Künstler, die Schriftsteller und Gelehrten, die man dort traf, schienen nicht zur Verzierung, sondern zu ihrem eigenen Vergnügen eingeladen zu sein. Erzwungen, gewollt schien nichts in Frau Lolas Zauberkreis; aus jedem der Stoffe, die unser heutiges Dasein durchsetzen, mußte ein Tröpfchen ausgepreßt und auf dem Herde des Hauses verflüchtigt sein, um seine entzückende Atmosphäre zu bilden. Daß bei all der verborgenen Arbeit, welche diese scheinbar sich von selber fügende, reizvolle Geselligkeit dennoch kostete, Frau Lola auch Augenblicke fand, in denen sie ihren beiden Töchterchen eine verständige Mutter war, mußte wunder nehmen. Sie hatte eine Perle von einem Kinderfräulein gefunden, deren einziger Fehler in übergroßem Pflichteifer bestand; ihr allzu häufiger Tadel verlor auf die übermüthige kleine Resi seine Wirkung und machte Hedwig, die ältere und schönere der beiden, herb und verschlossen. An der reizenden jungen Mutter dagegen hingen beide Kinder mit abgöttischer Verehrung. Voll eifersüchtigen Ehrgeizes trugen sie die von ihr gedichteten graziösen Verschen vor, mit denen sie, als Gärtnerinnen oder Zigeunermädchen ausstaffiert, Blumen vertheilend oder wahrsagend, die Gäste ihrer Eltern zu begrüßen pflegten, und mehr als die Liebkosungen der Fremden beglückte sie dann ein lobendes Lächeln der liebreizenden Mama.

Dies irae, dies illa – wie Helmuth sich der Ereignisse, die plötzlich hereinbrachen, so genau erinnerte! Er hatte es gesehen, schon seit längerer Zeit, daß das Haus Thomas Winter zu schwanken begann, daß es sich immer wieder stützte, sich zu halten schien, um schließlich doch mit einem furchtbaren Krache zusammenzubrechen. Unter ihm knickten die zu spät gewonnenen Stützen, neben ihm die Nachbarhäuser haltlos zusammen. Ja, Helmuth hatte es kommen sehen und vorgebeugt, so daß sein solides altes Haus nur leicht und nicht allzu nachhaltig erschüttert wurde. Aber noch jemand mußte diesen Sturz geahnt haben, eine Persönlichkeit, die sich also doch nicht nur mit ihren geselligen Angelegenheiten beschäftigt hatte – Lola. Als ein Schlaganfall dem Leben Thomas Winters ein plötzliches Ende bereitet hatte, fanden sich die Angelegenheiten der jungen Witwe in so musterhafter Ordnung vor, daß niemand, der ihres Gatten zerfahrenen Geist gekannt hatte, ihm selber diese Vorsorglichkeit zuschreiben konnte. Ein Jahr zuvor war die Gütergemeinschaft zwischen den Eheleuten aufgehoben worden; ihr Eingebrachtes und die künftige Mitgift ihrer Töchter hatte Lola bei der Reichsbank unantastbar sichergestellt. Diese „unangenehme Klugheit“ gab damals Helmuths verzehrender Leidenschaft einen kleinen Stoß, von dem sie sich jedoch unselig schnell wieder erholte. Lola war ernst und ruhig. Sie hatte mit dem Verstorbenen keine unglückliche Ehe geführt; in der ihm eigenen zerstreuten Weise hatte er während seiner seltenen geschäftslosen Stunden zu ihren ergebensten Anbetern gezählt, mit dem Vorzug, dableiben zu dürfen, wenn die übrigen das Haus verließen.

Um sich das Einleben in die wenn auch noch reichlichen, so doch wesentlich veränderten Verhältnisse zu erleichtern, siedelte die junge Witwe mit ihren Töchtern nach Berlin über, die Trümmer eines umgestürzten Hauses unbekümmert hinter sich zurücklassend. Wußte sie doch, daß treue Freunde, Helmuth voran, sich die Entwirrung des gordischen Knotens unter eigenen Opfern angelegen sein ließen. Mit einem wehmüthig dankbaren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_411.jpg&oldid=- (Version vom 10.4.2024)