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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Ach – aber war das überhaupt ein Glück für ihn, sein Leben an der Seite einer Egoistin zu verbringen, die um eigenen Vortheils willen ihre nächsten Angehörigen preisgab?

Helmuths langes Schweigen[WS 1] veranlaßte Hedwig endlich, sich nach ihm umzublicken. Sie sah ihn bleich und erschüttert dastehen und eilte mit rascher Bewegung zu ihm.

„Weshalb sagen Sie nichts?“ fragte sie fast athemlos und sah mit zitternder Spannung zu ihm auf. In diesem Blicke lag soviel erwartungsvolles Vertrauen, daß es Helmuth wunderbar warm ums Herz wurde.

„Beruhigen Sie sich, Hedwig,“ sagie er herzlich. „Man wird Sie nicht zwingen. Ich will sofort mit Ihrer Mama reden –“

Er drückte ihr die Hand und verließ das Zimmer. Er hatte genug gehört. Um sein Glück auf dem Leiden anderer aufzubauen – dazu war er nicht der Mann. Und das wollte er Lola sagen, sofort. Mochte dann kommen, was wollte; hatte er dies Leben bis hierher ertragen, so war es wohl auch noch länger möglich. Wie sie ihn angeblickt hatte, diese Hedwig! Welche klaren guten gläubigen Kinderaugen! Und er sollte ihnen Thränen erpressen?

Er klopfte flüchtig an und trat in den Salon. Bei seinem Eintritt erhob sich Resi von einem niedrigen Sitz und eilte ihm mit einem Rufe der Ueberraschung freundlich entgegen. Ein sandblonder junger Mann verließ gleichfalls seinen Sessel und stand, die Vorstellung erwartend, ein wenig steif und ernsthaft, mit durchgedrückten Knien in Positur.

„O – Herr Helmuth – uns so zu überraschen – wie wird Mama sich freuen!“ rief die Kleine. „Die Herren erlauben: Herr Julius Marboth aus Braunschweg, der Neffe unseres Schweizer Freundes – Herr Helmuth Stolz, ein alter Freund unseres Hauses.“

Helmuth faßte den jungen Mann scharf ins Auge. Ein gewöhnliches Gesicht: wasserblaue weißbewimperte Augen, unter einer etwas formlosen Nase ein langausgezogener rother Schnurrbart, ein hübscher Mund und ein längliches Kinn; der Teint luftgebräunt und großporig. Eine nicht üble Gestalt, an der nur die Beine etwas lang und dünn gerathen waren, vervollständigte den Eindruck einer ziemlich männlichen, nicht unangenehmen Mittelmäßigkeit.

Neben ihm erschien Resis unbedeutender Wuchs fast noch kleiner. Sie trug gleich ihrer Schwester ein dunkelrothes Kleid, welches auf ihre graugelbliche Hautfarbe vortheilhaft einwirkte. Ihr schlichtes braunes Haar, das eingedrückte allzu kleine Näschen und das etwas vortretende Kinn wären nicht imstande gewesen, den Eindruck ihrer Erscheinung zu heben, wenn nicht die ungemein gutherzigen fröhlichen Augen und die blinkenden Zähne ein freundliches Licht über die unregelmäßigen Züge gebreitet hätten.

Alle diese Einzelheiten glaubte Helmuth bisher niemals beachtet zu haben; jetzt, während er des jungen Mädchens munterem Geplauder zuzuhören schien, studierte er sie – er wußte selbst nicht, weshalb – mit dem Scharfblick eines Malers. Sein Interesse an Lolas Töchtern war urplötzlich erwacht.

„Und wo finde ich Ihre Mama?“ fragte er schließlich.

Resi sprang auf, klopfte an die Thür des anstoßenden Zimmers, öffnete sie und ließ Helmuth eintreten; sie selbst kehrte zu dem sandblonden Braunschweiger zurück. Lola saß am Schreibtisch des mit raffinierter Behaglichkeit ausgestatteten Raumes.

„Guten Tag, lieber Freund,“ sagte sie lächelnd, ohne aufzublicken, indem sie mit fliegender Eile noch einige Worte auf den vor ihr liegenden, nahezu vollgeschriebenen Briefbogen warf. Dann erhob sie sich und streckte ihm mit bezaubernder Herzlichkeit die Rechte entgegen; die Linke wendete inzwischen wie spielend den vor ihr liegenden adressierten Briefumschlag mit der unbeschriebenen Seite nach oben. Helmuth war selbst verwundert, daß er diese kleine bezeichnende Bewegung im ersten Augenblick des heißersehnten Wiedersehens bemerkte. Was hatte plötzlich sein Auge für solche kleinliche Züge geschärft?

„Also wirklich, es war Ihre Stimme?“ fuhr sie mit Wärme fort. „Wie soll ich es Ihnen danken, daß Sie gekommen sind! Freilich, ich darf mich nicht über den neuen Freundschaftsbeweis wundern. Sie verwöhnen Ihre Freunde so sehr, daß es nur natürlich ist, wenn sie unbescheiden werden.“

Zerstreut seinen kurzen dunklen Bart streichend, horchte Helmuth mehr auf ihre helle Stimme als auf ihre Worte. Sein Auge überflog ihre feingebaute Gestalt. Wie schön sie war! Das zierliche Köpfchen mit dem Kameenprofil wuchs aus einer dichtgefältelten schwarzen Spitzenkrause empor, aus welcher der schlanke Hals schneeweiß hervorleuchtete. Ueber die üppigen Falten eines eleganten Negligées von grauem Plüsch floß bei jeder ihrer Bewegungen ein weiches silbernes Licht. Gehoben durch die vortheilhafte Kleidung, strahlte das schöne Gesicht in einer Frische, der man die herannahenden Siebenunddreißig nicht glauben mochte. Die Seele, die in diesem wohlerhaltenen Körper wohnte, hatte ihr Haus nicht abgenutzt, nicht gerungen und gelitten – kühl und ruhig hatte sie in ihrem Raume gewaltet, und was aus diesen dunklen Augen blitzte, war nichts als die Lust am Leben, am Herrschen – geistig verfeinert zwar, doch nicht seelisch durchwärmt.

Manchmal schon hatte er ähnliche Gedanken verscheucht, nicht nur, weil es ihm fast sündhaft erschienen war, an einem so herrlichen Gottesgeschöpf zu mäkeln, auch weil seine warmherzige Natur das Bedürfniß fühlte, den Gegenstand seiner Liebe zu idealisieren. Und die Liebe zu Lola schien ihm zur Lebensgewohnheit geworden. Woher nur heute, und gar in ihrer Gegenwart, diese kritische Stimmung, die von Minute zu Minute wuchs?

Er wurde erst aus diesen Beobachtungen aufgeschreckt, als er ihr gegenüber in einer der phantastisch arrangierten Zimmerecken saß und die Worte hörte:

„Und nun zu dem Zwecke Ihres Kommens!“

Hedwigs Bild trat vor seine Seele, ihre rührenden thränenvollen Augen. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und sagte, mit einer Möbelquaste spielend, im Geschäftston:

„Ja, lassen Sie uns davon reden! Ich fürchte, Lola, daß Sie mich vergebens gerufen haben.“

Sie richtete sich überrascht auf und ihre dunklen Augen spähten scharf zu ihm hinüber.

„Ich habe Hedwig gesprochen,“ fuhr er fort, „und bin durchaus nicht gesonnen, sie gegen ihr Gefühl in eine unpassende Heirath hineinzureden. Denn dazu hatten Sie mich ja doch ausersehen? Das Mädchen findet diese Art der Versorgung unwürdig, der Mann ist ihr fremd und gleichgültig. Mein Gewissen ist nicht weit genug, um die Verantwortung für die Folgen zu übernehmen.“

Lola sah ihn einen Augenblick stumm an. Er saß noch zurückgelehnt und hielt die Augen eigensinnig auf die in seiner Hand sich drehenden Fransen der Quaste gerichtet, als fürchte er, der Anblick der schönen Frau mochte ihn in seiner Weigerung wankend machen. Da schlugen leise Worte an sein Ohr, in denen ein räthselhafter Ton zitterte – war es Enttäuschung, war es Verheißung?

„Ich – ich glaubte, Sie selber wünschten –“

Helmuth fuhr empor. Da saß sie vor ihm, die Frau, deren Besitz ihm seit Jahren als das höchste Gut erschienen war. Sie hatte den Kopf abgewendet, so daß ihm nur die zarte lichtgeränderte Wangenlinie sichtbar war. Aber er sah ihre Brust sich in raschem Athem heben und senken – ein Taumel faßte ihn, und mit hastiger Bewegung riß er ihre Hand an sich.

„Lola – o Gott – Lola –“

Sanft entzog sie ihm die Hand. „Nein, mein Freund,“ sagte sie, wie er zu vernehmen glaubte, mit unterdrückter Bewegung, „wenn wirklich Ihr Gewissen in Frage kommt – ich bin nun schon fertig damit. Ich dachte nur, weil Hedwig stets eine solche Vorliebe für Sie gezeigt hat, und dann – habe ich mich denn auf andere Weise verheirathet und bin ich als Toms Gattin je unglücklich gewesen?“

Er sprang auf und schritt erregt hin und her.

„Sie sind eine andere als Hedwig, das Mädchen hat ein empfindliches vereinsamtes Gemüth, und Sie sind eine Weltdame!“

Ein erstauntes Lächeln flog über ihre Züge; dann legte sie den Finger auf den Mund und deutete auf die Thür zum Nebenzimmer, wo eben Resis helles Lachen erscholl.

„Etwas leiser, bitte, mein verehrter Psycholog!“ lächelte sie. „Ei, ei, da entdecke ich ja eine neue Tugend an Ihnen! Aber urtheilen Sie nicht zu schnell; ich bilde mir ein, meine Tochter auch ein wenig zu kennen. Diese drei verunglückten Tage wird sie Herrn Marboth und mir noch abbitten. Vielleicht hat sie eine sogenannte ‚Neigung‘ – wir alle leiden ja mit neunzehn Jahren an diesen erhabenen Thorheiten! Und wie viele von uns erleben die Erfüllung ihrer ersten Herzensträume? Nicht eine unter Hunderten! Und das ist gar kein Unglück! Guter Gott – man kennt ja diese am meisten angeschwärmten Männer! Allein da steift sich der romantische kleine Eigensinn auf einen Konzertmeister oder Posa-Darsteller und tobt gegen die elterliche Tyrannei, um ein Jahr später auf den Knien dafür zu danken.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Schweiges
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 414. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_414.jpg&oldid=- (Version vom 12.1.2022)