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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Nein, Dietwald, sage: all seine Liebe verdienten, so sehr, daß die Stimme der Natur zum Schweigen kam und sich verwandelte. Es wird lange, lange währen, bis mit diesem Kind von einem neuen Vater zu reden ist. Sie darf, daß sie ein Herrenkind ist, nicht erfahren, bevor sie sich nicht an Herrenleben gewöhnt hat. Inzwischen . . . und während Du fort bist . . . will ich forschen und forschen. Und wenn auch der Mund, den dieser Tag geöffnet und geschlossen, nicht wieder reden sollte . . . eine Fährte wird sich doch wohl finden lassen, der ich folgen kann. Und gebe Gott, daß ich Dir gute Botschaft senden darf.“

„Und dann, dann . . .“ stammelte Desertus, „wenn ich sie auch nicht halten darf in meinen Armen, ein Vater sein Kind, so darf ich mich ihrer doch freuen in verschlossenem Herzen mich erquicken an ihrem sonnigen Dasein, darf bauen helfen an ihrem Glück!“

Es war dunkle Nacht geworden, doch hoch vom Himmel funkelte in die enge Schlucht hernieder ein heller Stern; der Wildbach rauschte, und plätschernd gingen die Wellen im See.

„Dietwald? wie lang ist es her, daß wir so wie jetzt an dieser Stelle saßen? Damals aber schien die Sonne . . .“

„Und es war Nacht in mir. Jetzt liegt die Finsterniß um mich gebreitet, und eine Freude geht auf in meinem Herzen, hell wie ein Frühlingstag.“ Weinend stürzte er auf seine Knie. „Herr Heinrich, mein Falter fliegt!“

„So? So?“ lächelte der Propst. „Mir aber scheint, er liegt erst recht zu Boden! O Du Mensch! Du Mensch!“ Zärtlich strich er mit der Hand über das Haupt des Paters.

„Als ich den Bären jagte in meinem Forst, ward mir mein Dirnlein geboren ... als ich den Bären schlug in diesem Wald, ward mein Kind mir neu gegeben! O Wege Gottes!“

„Natürlich! Der liebe Herrgott muß eigens die Bären erschaffen und von ihnen die Menschen zerreißen lassen . . . nur damit Du seine Wege erkennst! O Du Fliege Du; gieb acht, daß Du Dir die Flügel nicht versengst! Nun aber steh’ auf! Ich höre schon die Ruder klatschen. Es ist Zeit, daß Du reisest und Arbeit findest! Und wiege Dich nicht in der Hoffnung ... sie soll Dich beleben! Du nimmst ein schweres Werk auf Dich ... sie haben harte Köpfe – der Papst und seine Kardinäle. Aber schlage Dich für Deinen Kaiser, als trügest Du noch die Rüstung und das Schwert. Und wenn Du vor dem Papste stehst, so sei vorerst ein Mann . . . vergiß aber auch nicht, daß Du ein Priester bist. Und sollte er Dich fragen, weshalb sein ‚getreuer Kaplan‘ Heinrich von Berchtesgaden der Satzung zuwider die Kirchen offen hält und die Sakramente spendet, derweil der Kaiser im Bann ist, so sag’ ihm mit meinen ehrfurchtsvollen Grüßen: erstens, weil meine Bauern und Lehensleute die Kirche und die Sakramente brauchen . . . zweitens, weil Heinrich von Inzing ein deutscher Kirchenfürst ist, und also das ‚Deutsch‘ vor der Kirche steht . . . und drittens ... da kannst Du wieder von vorne anfangen. Jetzt aber komm’! Dort warten sie mit dem Schiff.“

Herr Heinrich schritt dem Ufer zu. Pater Desertus aber eilte in die Klause; als er wieder ins Freie trat, hielt er Gittlis Veilchenkränzlein in den Händen; er drückte einen heißen Kuß auf die welkenden Blüthen und barg sie an seiner Brust.

„Wie steht es mit dem Wolfrat?“ fragte Herr Heinrich.

„Er liegt in bösem Fieber, und Pater Eusebius nähet an ihm wie der Schneider an einer ledernen Hos’,“ sagte der Knecht. „Der arme Teufel hat ja Löcher, daß man sieben könnt’ durch seine Haut.“

Sie bestiegen das Schiff. Schnell ging die Fahrt vonstatten. Als sie das Seedorf erreichten, sagte Herr Heinrich: „Fahret morgen zeitig hinüber zu der bösen Stelle und suchet meine Waffen zusammen; ich weiß nicht, wo sie liegen.“

„Und was soll mit dem Bären geschehen?“

„Streifet ihm die Haut ab. Den Leib aber soll man mit Steinen in den See versenken. Niemand soll davon essen.“

Einer der Knechte ging mit brennender Fackel voran, als Herr Heinrich und Pater Desertus an der rauschenden Albe entlang die Wanderung durch das nächtige Thal begannen. In allen Hütten waren schon die Fenster dunkel, auch am Haus des Sudmanns, das sie nach einer Stunde erreichten. Pater Desertus blieb in tiefer Bewegung stehen.

„In dieser elenden Hütte lebte mein Kind!“

„Dein Kind?“ lächelte Herr Heinrich. „Ach so, Du meinst das Herrenkind, dessen Vater wir finden müssen? Nein, Dietwald, Du darfst die Hütte nicht schelten. Denn in keiner Burg hätte das Mädchen besser und holder an Gemüth und Herz gerathen können, als es in dieser Hütte geschah. Und zum Dank dafür muß ich morgen Kummer und Schmerz unter dieses Dach tragen! Komm’, Dietwald!“ Er zog den Widerstrebenden mit sich fort. –

Als sie vorübergingen, warf der Schein der Fackel eine falbe Helle durch das Fenster in die Stube. Sepha richtete sich auf im Bett und lauschte. „Noch allweil kommt er nicht!“ seufzte sie und ließ sich wieder zurücksinken.

Neben ihr schlief der Bub; er hatte Mimmidatzis Plätzchen geerbt; immer von neuem tastete Sepha zu ihm hinüber, ob er auch zugedeckt wäre. Dann lag sie wieder ruhig und starrte in die Nacht hinein. Draußen rauschte die Albe, und in dem Pfosten der Thür, welche zu Gittlis Kammer führte, tickte ein Holzwurm.

Mit jeder verrinnenden Stunde der Nacht wuchs Sephas Angst. Freilich, sie hatte sich so recht von Herzen auch nicht freuen können, als Gittli in die Stube hereingestürmt war mit den Worten: „Seph’, Seph’, sie haben ihn freilassen müssen, der Haymo hat für ihn gezeugt!“ Der schwerste Stein war ihr wohl von der Brust gefallen: ihr Mann war frei! Aber . . . gethan hatte er’s ja doch!

Und nun lag sie und wachte, warf sich hin und her, wartete und lauschte, setzte sich auf und fiel zurück, weinte in die Hände und drückte die nassen Augen wieder in das Polster. Und die Sorge um ihren Mann wechselte mit dem Kummer um ihr verlorenes Kind. Ach, solch eine Sorgennacht! Jede Minute wird zur qualvollen Ewigkeit. Jeder Kummer wächst dir ins Riesenhafte, Ungemessene. Wohin du in der Finsterniß auch blickst, überall siehst du ihn . . . das Dunkel hat ja keine Grenzen, und so weit es reicht, so weit hin stehen auch die Gespenster deiner Sorgen, eins am anderen; sie drängen näher, sie ziehen an dir vorüber, und jedes hält eine Weile still, sieht dich an mit drohenden Augen und drückt dir die knöcherne Faust auf die Brust, daß dein Athem fast ersticken will. Ach, solch eine Sorgennacht!

Sepha hielt es nimmer aus. Sie sprang auf, kleidete sich an und machte Licht. Mit erhobener Kerze leuchtete sie in Gittlis Kammer. Das Mädchen lag mit offenen Augen, ein Bild, wie aus Dietwalds Träumen herausgelöst: „... das weiße Gesichtchen auf schwarzem Kissen, nein doch, das sind ja nur die gelösten Haare, die um ihre Wangen gebreitet liegen wie schwarze Seide.“

„Gelt?“ nickte das Weib. „Kannst auch nicht schlafen?“

Gittli seufzte. „Weißt, ich muß halt auf so viel denken. Wie ein Spinnradl geht’s mir herum im Kopf und laßt mir schon gar keine Ruh’ nimmer!“

„Machst Dir auch schon Sorgen um den Polzer?“

Mit verwunderten Augen blickte Gittli zu der Schwäherin auf. „Um ihn? Ja warum denn? Sie haben ihn doch freigelassen. Ich hab’s ja doch selber gehört und gesehen.“

„Aber er müßt’ ja doch lang schon daheim sein!“

„Geh’, Du! Ich hab’ Dir’s ja doch erzählt, daß er noch ’was schaffen hat müssen für den Herrn. Er wird halt lang gebraucht haben dazu und hat nimmer heim können vor der Nacht. Wirst sehen, er hat in der Almenhütt’ geschlafen, und in der Früh ist er daheim, noch vor das Glöckl im Sudhaus läutet. Kannst mir’s glauben, um den sorg’ ich mich nicht ein lützel!“

Ihre Sorgen galten einem anderen. Jetzt war er „harb“ auf sie, und sie hatte ihm doch nichts gethan!

„Weswegen mußt Dich denn nachher sorgen?“

Gittli schüttelte das Köpfchen und schob die Hände unter den Nacken.

„Aber so red’ doch!“

„Geh’! Thu’ mich Du auch noch plagen!“ Sie drehte das Gesicht gegen die Wand, denn Thränen standen ihr in den Augen.

Sepha stellte das Licht in die Fensternische und ließ sich seufzend auf den Rand des Bettes nieder. Lange schwiegen sie. Da begann an der Thür der Holzwurm wieder zu pochen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 431. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_431.jpg&oldid=- (Version vom 27.3.2021)