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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

jetzt unaufhaltsam die Fluth seines Vertrauens ergoß. Jedes Wort aus Resis Munde schien sich seinem Gedächtniß eingeprägt zu haben, und das unbedeutendste davon hatte Reiz und Bedeutung für ihn. Immer wieder fragte er Helmuth, ob er wohl glaube, daß „das niedliche Ding nicht ‚Nein‘ sagen würde.“ Helmuth suchte ihn möglichst zu beruhigen. Den Redefluß seines neuen Freundes, der immer noch etwas zu berichten wußte und durchaus noch mit ihm in ein Café gehen wollte, dämmte er durch ein freundliches Abschiedswort zurück und stieg durch das glänzend erleuchtete Treppenhaus seines Gasthofs in sein Zimmer empor. Dienstfertig zündete ihm ein sauberes Zöfchen die dünne Stearinkerze an und überließ ihn einer ungewohnt frühen Ruhe.

Ach, diese Gasthofsruhe! Draußen schallten Reden und Gegenreden, über die Läufer hasteten gedämpfte Schritte, Stiefel wurden mit lautem Gepolter vor die Thüren befördert, und von Zeit zu Zeit rauschte und gluckste eine nahe Wasserleitung. Mehr aber als diese äußeren Störungen, auf die Helmuth schon während des Auskleidens mit nervösem Ingrimm lauschte, erregte ihn der Rückblick auf seine heutigen Erlebnisse. Ein Lebensabschnitt lag hinter ihm: er hatte seine Hoffnungen auf eine Zukunft an Lolas Seite für immer verabschiedet. Nun galt es, ein neues Ziel zu finden, sollte nicht sein Lebensschiff haltlos, planlos auf den Wellen irren. Seine Eltern waren nicht mehr am Leben, die Geschwister, hierhin und dorthin verstreut, bedurften seiner nicht; sein altes solides Geschäft nahm nur einen Theil seiner Kräfte in Anspruch. Auch seine Liebhabereien – er galt für einen tüchtigen Reiter und besaß eine berühmte Waffensammlung – füllten seine Seele nicht aus. Er konnte sich öffentlichen Angelegenheiten widmen, Wohlthätigkeit in großartigerem Maßstab üben als bisher – indessen war er denn wirklich schon alt und befriedigt genug, um auf jedes eigene Glück zu verzichten? Eine gleichgültige Ehe eingehen, nur um eine Häuslichkeit und eine eigene Familie zu besitzen, dazu fühlte er sich außer stande. Zu lange hatte die Ehe ihm als glückseliges Endziel vorgeschwebt, als das gelobte Land, das ihm die vieljährige einsame Wanderung lohnen sollte. Und nun plötzlich ließ er dieses Endziel fahren. Hatte Lola ihm heute eine früher geweckte Hoffnung geraubt – war er der Wanderschaft müde? Oder hatte er sie etwa von neuen Seiten kennengelernt? Nein, immer hatte er sie gefunden wie heute: selbstsüchtig ihre Ziele verfolgend, ihn mit unbestimmten Hoffnungen hinhaltend; allein der blendende Glanz, in dem er früher ihre Gestalt gesehen hatte, war zerflossen, und ohne diesen Schimmer erschienen ihm ihre Fehler abstoßend und unverzeihlich. Die Liebe war dahin, und nur die Erinnerung an soviel Schmerzen konnte es sein, was ihn noch quälte. Doch – was es auch sei, eine fremde Macht hatte in sein Leben eingegriffen, hatte die Schrift gelöscht, die er unvergänglich glaubte. Oder war trotz allem diese Schrift nur auf Augenblicke unsichtbar, um plötzlich aufs neue in erhöhter Klarheit und Helle hervorzutreten? Denn die gähnende Leere, die nach dem Verlust einer langen Liebe das beraubte Herz mit ihrer Trostlosigkeit heimzusuchen pflegt – er fühlte sie nicht in sich. Im Gegentheil, eine sonderbar erwartungsvolle Stimmung war in ihm, er war begierig, etwas Neues, Wundervolles zu erfahren, wie ein Kind neugierig ist auf die nächste Seite im neuen Bilderbuch.

Grübelei und kein Ende!

Helmuth tastete nach den Streichhölzern und zündete das Licht wieder an. Gleich darauf war er aus dem Bette und in den Kleidern; dann hob er seinen kleinen Handkoffer empor und leuchtete hinein, so daß einige Stearintropfen auf dessen Inhalt fielen. Es mußte doch da sein, nie war er ohne diesen Talisman gereist – richtig, da war’s. Ein flaches Ledertäschchen kam zum Vorschein, das, entfaltet, eine Reihe Ausschnitte mit Kabinettphotographien zeigte. Lola, Lola, und immer wieder Lola. Lola im Ballkostüm, im Hauskleid, im Promenadenanzug, Lola auf der Maskerade, Lola als zärtliche Mutter – immer schön, immer in bewundernswürdiger Pose, in der modernsten Kleidung des betreffenden Jahrganges – eine wahre Geschichte der Mode aus den letzten dreizehn Jahren.

Helmuth stellte den Leuchter auf die grüne Plüschdecke des Tisches, setzte sich auf das Sofa und betrachtete lange und aufmerksam prüfend jedes einzelne Bild. So sah sie aus, als er sie zum ersten Male erblickte; so schwermüthig sinnend schaute sie drein, als er ihr den „Ekkehard“ vorlas. Und beim Anblick jeder Photographie, beim Heraufbeschwören jeder dieser alten Erinnerungen lauschte er in sich hinein, ängstlich fast, ob die wohlbekannte Stimme sehnsüchtiger Leidenschaft nicht wie immer laut würde.

Und plötzlich zieht er den Leuchter näher heran. Er hat die letzte Falte des Täschchens geöffnet, und wie eine Ueberraschung blickt ein Bild ihn an, das er vor Monaten erhalten und vielleicht nicht ein einziges Mal wieder betrachtet hatte. Ein Schreck, ein süßer fremder, und ach! so wohlbekannter Schreck durchzuckt ihn, und sein Herz beginnt so schnell, so ängstlich zu klopfen, als ertappe er sich auf einem Unrecht – –

Vor seinen Augen wird es klar, aber um so schwerer legt es sich auf sein Herz. Wozu nun all das! Beklommen athmend, starrt er brennenden Blickes auf das Bild. Er drückt es verstohlen an seine Lippen und blickt hastig um sich, als fürchte er, beobachtet zu werden – dann schiebt er es beschämt von sich, um es im nächsten Augenblick wieder zu betrachten. Er wird des Ansehens nicht müde. Der Docht des Lichtes wird lang und biegt sich zur Seite; Tropfen auf Tropfen löst sich durchsichtig neben der Flamme, fließt an der Kerze herab und erstarrt zu hügeligen Streifchen. Helmuth merkt es nicht; er blickt auf das Bild, bis bunte Kreise sich vor seinen Augen drehen.

Was hatte er nun gewonnen? Er glaubte sich aus dem Abgrund gerettet und war nur noch tiefer hineingestürzt. Nur Flucht, eiligste Flucht konnte ihn vor einer gefährlichen Thorheit bewahren. Mit beiden Händen hielt er die schmerzende Stirn. Draußen schlurfte bereits der verschlafene Hausknecht, mit Stiefeln beladen, über die Gänge, als Helmuth endlich einschlief. Der Stumpf der Kerze war tief in den Leuchter hineingeschmolzen. –

Als er am nächsten Vormittag die Klingel an der Winterschen Wohnung in Bewegung setzte, versuchte er sich einzureden, es sei ihm mit dem Fluchtgedanken wirklich Ernst gewesen, und nur sein Versprechen dem jungen Marboth gegenüber, Frau Lola von der veränderten Lage der Dinge in Kenntniß zu setzen, habe ihn verhindert, abzureisen. Nun, da er doch einmal hier war, konnte er auch in seiner eigenen Sache ein wenig beobachten.

Er traf Lola allein im Speisezimmer, beschäftigt, einen Fruchtkorb mit heimischem und ausländischem Obste zu füllen. Sie war noch in einem einfachen Hauskleid von grauem Flanell, dessen schwarzer Sammetbesatz ihre heute morgen etwas matte Gesichtsfarbe ein wenig hob. Unter einem zierlichen Morgenhäubchen quollen einzelne dunkle Löckchen hervor.

„Sie scheinen sich zum Nachtwandler ausbilden zu wollen,“ begrüßte sie ihn, ohne sich in ihrer Beschäftigung stören zu lassen. „Ich glaubte, es sei die Friseurin. Kommen Sie so früh, um Abschied zu nehmen?“

„Diesen Wunsch erfülle ich Ihnen heute noch nicht,“ erwiderte er und lehnte sich, ihr zusehend, an das Büffett. „Sie werden doch nicht so ungastlich sein, mich vor der feierlichen Verlobung über die Grenze zu befördern?!“

„Sie haben sich also für die nächsten Monate in Berlin niedergelassen?“ gab sie in etwas spitzem Tone zurück.

„Behüte, schönste Frau – soviel Geduld können Sie von Herrn Julius Marboth nicht erwarten,“ lächelte Helmuth. „In seinem Auftrag bin ich hier. Er läßt Sie höflichst um die Erlaubniß bitten, Ihrer jüngsten Tochter, Fräulein Therese Winter, seine Liebe erklären zu dürfen.“

Lolas Hände sanken so plötzlich herab, daß der rothwangige Apfel, den sie eben mit einem weißen Tuche abgerieben hatte, zur Erde fiel. Helmuth bückte sich danach und überreichte ihn Lola mit einer tiefen Verbeugung.

„Gnädigste Frau Venus – Ihr ergebener Paris erlaubt sich gehorsamst –“

Mechanisch nahm Lola den Apfel. Ihr Gesicht war erblaßt; ihre Augen, noch größer und dunkler als gewöhnlich, blickten achtungsvoll und doch fast feindselig zu Helmuth empor.

„Ah,“ sagte sie langsam, „also haben Sie es durchgesetzt – das muß Sie viel Mühe gekostet haben!“

„Nicht die mindeste!“ lachte Helmuth. „Nur ein bißcheu Geduld. Herrn Marboths Verliebtheit ist etwas wortreicher Natur –“

Lola beachtete den Einwurf nicht. „Gut, mir kann es einerlei sein,“ fuhr sie fort, „ja, ich gönne Hedwig die Demüthigung. Nur eins möchte ich wissen –“

Sie ergriff plötzlich Helmuths Hand und führte ihn gegen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 446. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_446.jpg&oldid=- (Version vom 9.6.2021)