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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

nur denken kann. Und Sie – Sie lieben ihn auch – wenigstens finden Sie ihn ‚amüsant‘ oder ‚himmlisch‘ – warum wollen Sie ihn nun aus kindischem Eigensinn kränken und fortschicken?“

Er hatte in ein Wespennest gestochen. Resis Zorn wandte sich plötzlich gegen ihn.

„Kindisch? Eigensinn?“ sprudelte sie hervor. „Und wie hat sich denn Hedwig benommen? Wie Luft – puh! – hat sie ihn behandelt, den armen lieben Menschen – aber das war natürlich kein ‚kindischer Eigensinn‘, wie? O – aber ich, das ist freilich etwas anderes; was mein Fräulein Schwester nicht mag, ist für mich noch lange gut genug! Allein Ihr irrt Euch, ich halte mich doch für zu kostbar, um die – Ersatzreserve zu spielen!“

Hedwig, zwischen Lachen und Weinen, fühlte ihre Kehle sich zusammenschnüren. Wankend stützte sie beide Hände auf den Tisch. Langsam ging Helmuth zur Thür.

„Ist das Ihr letztes Wort, Resi?“

Das Mädchen nickte.

Er hob die Achseln. „So bleibt mir nichts anderes übrig als die beneidenswerthe Aufgabe, Herrn Marboth, dem ‚armen lieben Menschen‘, entgegenzugehen und ihm Ihren Entschluß mitzutheilen. Ich möchte ihm doch wenigstens den peinlichen Abschiedsbesuch in diesem Hause ersparen.“

Er hielt den Drücker in der Hand und blickte erwartungsvoll zu Resi hinüber. Sie hatte beide Ellbogen auf den Tisch gestützt und preßte ihr Tuch gegen die Augen.

„Resi –“ begann Hedwig, „Du hast ihn doch so gern –“

„Was kümmert’s Dich?“ rief Resi wüthend.

„Und haben Sie ihm nichts mehr auszurichten, keinen Gruß?“ fragte Helmuth.

„Einen Gruß, meinetwegen!“ murrte die Kleine. Dann, als sie ihn wirklich die Thür öffnen sah, schnellte sie vom Sofa empor und stammelte verwirrt:

„Und – und – auch noch, daß es mir so schrecklich leid thut – und – er soll mir nicht böse sein –“

Lächelnd ging Helmuth hinaus. Hedwig breitete plötzlich in heftiger Bewegung ihre Arme aus, und Resi flüchtete hinein. So standen sie fest umschlungen und weinten, weinten – ob vor Leid, vor Glück, vor Liebe? Sie wußten es selber nicht. –

Beim Durchschreiten des „Berliner Zimmers“ fand Helmuth Lola in vollem Aerger mit gekreuzten Armen auf und abgehend. Einen Augenblick hielt er ihren Klagen über die empörende Unvernunft der beiden Mädchen stand, dann versicherte er sie ernsthaft seines Beileids über den Besitz zweier ihrer Mutter so ungleicher Töchter und verließ eilig Zimmer und Haus.

Draußen lachte ein heller Himmel; ein leichter Frost überzog die Straßen, auf denen das geräuschvolle Gewühl der hin und her eilenden Menschen, der Wagen und Pferdebahnen in jedem Augenblick sich bunt und fröhlich erneute. Helmuth spähte rechts und links, wanderte ein Weilchen vor dem Hause auf und nieder und blieb endlich vor dem Schaufenster eines nahen Blumenladens stehen. Ein blaßlila Fliederzweig, aus gleichfarbiger spitzer Papierdüte seine zarten Dolden vorstreckend, fesselte seine Aufmerksamkeit. Er stellte sich vor, wie gern Hedwig ihr niedliches Zimmer mit dem zarten Frühlingsboten schmücken würde, und nachdem er sich nochmals überzeugt hatte, daß der Erwartete sich noch nicht nähere, trat er schnell in den Laden. Zu seiner Ueberraschung fand er hier Herrn Julius Marboth auf einem Stuhle, einen strahlend blanken Cylinderhut zwischen den Knien, die Hände von ebenso neuen, gelben Handschuhen bedeckt, welche genau nach seiner Haarfarbe ausgesucht zu sein schienen.

„Sie Unglücksvogel!“ begrüßte Helmuth den sich erfreut Erhebenden, „Sie lassen hier wohl den Verlobungsstranß binden?“

„Warum nicht?“ schmunzelte der Blonde.

„Mein lieber Freund,“ sagte Helmuth gelassen, „selbst hier in Berlin giebt es noch Gebiete, auf denen die elektrische Geschwindigkeit sich einstweilen nicht nutzbar machen läßt. Bezahlen Sie Ihren Strauß und hoffen Sie mit mir, daß wir ihn später zur Erfüllung seines eigentlichen Zweckes abholen lassen können!“

Gleich darauf trat Marboth halb betäubt neben seinem Gönner auf die Straße und horchte verstört auf die Beschreibung der Scene von vorhin. Resis Gruß und ihre letzte Bestellung nahm er mit einer Miene entgegen, in der es voll zärtlicher Rührung und schmerzlicher Bitterkeit verdächtig zuckte.

„Und nun,“ schloß Helmuth, „werde ich mich hüten, Ihnen irgend einen Rath zu ertheilen. Ein anderer würde Ihnen vielleicht sagen: die Welt ist übervoll von Mädchen; reisen Sie ab und halten Sie sonstwo Umschau –“

„Und das thäte ich auch,“ fiel Marboth mit bewegter Stimme ein, „wenn – wenn sie es mir nicht angethan hätte. Und außerdem – sehen Sie – ich glaube es nicht.“

„Was glauben Sie nicht?“

„Daß sie es ernst meint mit dem ‚Nein‘. Das muß ich erst aus ihrem eigenen Munde hören. So kann sie sich nicht verstellen. Sehen Sie – gestern im Theater –“

Und er machte Miene, die gestern unterbrochene Wiedergabe von Resis Aeußerungen fortzusetzen. Helmuth jedoch, den es drängte, ein ganz anderes Gespräch, das er vor einer halben Stunde hatte unterbrechen müssen, wieder aufzunehmen, führte ihn gegen das Haus zu.

„Aufrichtig gestanden,“ sagte er, „bin ich ganz Ihrer Meinung. Wissen kann man es freilich nicht; ich gehöre nicht zu den Narren, die behaupten, die Frauen zu kennen. Als ob die Frauen nicht untereinander ebenso verschieden wären wie wir – und als ob nicht jede einzelne von ihnen unberechenbar wäre!“

Oben erfuhr Helmuth von dem Dienstmädchen, daß die gnädige Frau mit ihrer Toilette beschäftigt sei. Nachdem er seinen vor Erregung bleichen Schützling im Salon untergebracht hatte, klopfte er unverweilt an das Zimmer der beiden Mädchen.

Diese waren, einander mit den Armen umschlingend, auf und ab gewandert und hatten sich im Drange der stürmenden Gefühle die vertraulichsten Geständnisse gemacht. Hedwig trug Helmuths Bild in der Hand und stellte es bei seinem Eintritt eiligst auf den nächstbesten Tisch, freilich zu spät, um die verrätherische Bewegung seiner Beobachtung zu entziehen. Mit einem trostlosen Blick ihrer verweinten Augen suchte Resi in den Zügen des Eintretenden zu lesen.

„Ist er abgereist?“ fragte sie in einem Tone, als erkundige sie sich nach seiner Beerdigung.

„Er benutzt den nächsten Zug,“ antwortete er ernsthaft.

Resis Augen füllten sich aufs neue mit Thränen.

„Wenn er nur gesund nach Braunschweig kommt!“ fuhr Helmuth mit einem übertriebenen Ausdruck von Mitleid fort, welcher Hedwigs Aufmerksamkeit erregte, so daß sie mit steigender Spannung und zum Lächeln sich öffnenden Lippen ihn anblickte. „Ich verließ ihn in einem Zustand – es war zum Erbarmen!“

Schluchzend warf Resi sich in einen Stuhl; über sie hinweg trafen sich zwei verständnißvolle Blicke. Leise trat Helmuth zu der Weinenden und legte seine Hand auf ihren Scheitel.

„Armes Kind!“ sagte er weich. „Drüben im Salon liegt sein Abschiedsbrief – gehen Sie, weinen Sie sich in der Einsamkeit aus!“

Resi sprang auf und tastete sich, das Tuch vor die Augen gedrückt, aus dem Zimmer. Hastig ergriff Helmuth Hedwigs Hand und führte sie leise bis zur Thür, welche er öffnete. Sie sahen die weinende Resi langsam das Speisezimmer kreuzen und die Schiebethür zum Salon zurückstoßen – dann ertönte plötzlich ein Schrei, ein Schluchzen, halb erstickte jubelnde Laute einer männlichen Stimme. –

Erglühend riß Hedwig ihre Hand aus der des Freundes und stürmte in wilder Flucht zurück in ihr Zimmer; hinter ihr drehte sich der Schlüssel im Schlosse.

Helmuth eilte ihr nach. „Hedwig!“ rief er flehend, „Hedwig!“

Aber alles blieb still; nur aus der nahen Küche hörte er das unterdrückte Kichern der Dienstboten.

Drinnen stand das junge Mädchen, beide Hände auf das laut pochende Herz gepreßt. Was war das – wollte er sie demüthigen, weil er sein Bild in ihrer Hand gesehen hatte? Wollte er studieren, ob sie ihrer Schwester das plötzlich gewonnene Glück gönnte? Oder – – nein, o nein! Er hatte sie ein wenig gern, weil sie die Tochter ihrer Mutter war, die er verehrte; es machte ihm Vergnügen, die thörichten kleinen Mädchen zu necken oder zu hofmeistern, je nachdem. Und nun ärgerte es ihn, daß sie nicht wieder kam. Aber sie wollte nicht – nein, um keinen Preis konnte sie ihm jetzt in die Augen sehen. Mochte er nur rufen!

Und er rief – bis sich mit einem Male eine andere Thür aufthat und Lola frisch frisiert in ihrem grauen Plüschgewand vor ihm stand und ihn verwundert ansah.

„Helmuth – wie sehen Sie aus! Was machen Sie denn da?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 448. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_448.jpg&oldid=- (Version vom 9.6.2021)