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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


bestimmte Bank gesetzt. Mitleidige Leute hatten ihn rasch mit trockenen Kleidern versehen, und nun behagte es ihm sehr in der lauen Wärme des Zimmers. Mit kindlicher Neugierde blickte er sich um in dem kahlen Raum. Offenbar war er es gewohnt, allein unter fremden Leuten zu sein. Die großen blauen Augen wagten es sogar, den entsetzlichen Mann mit dem grünen Schirm auf der Stirn, an dem sie vorher immer ängstlich vorbeigegangen waren, einer eingehenden Beobachtung zu unterziehen.

Da tönten schlürfende Schritte auf den Steinfliesen des Ganges. Ein breitschultriger großer Mann in beschmutztem Anzug trat herein, begleitet von dem Gefängnißwärter. Verbissener Trotz lag in dem Gesicht, dem die Leidenschat des Trunkes schon ihren rohen Stempel aufgedrückt hatte. Er achtete nicht auf das Kind, das sich bei seinem Anblick zitternd in die Ecke drückte.

„Jakob Davis ist Ihr Name?“ fragte der Beamte.

„Ja.“

„Ihre Frau heißt Marie, Ihr Sohn Johann?“

„Stimmt, was soll’s damit?“

„Ist der Junge dort Ihr Sohn?“ fragte mit schneidender Kälte der Beamte weiter, auf den zitternden Hans deutend.

Jakob Davis wandte sich jäh um. Der Knabe schrie laut auf und streckte die Aermchen vor, wie um sich vor einem erwarteten Schlage zu schützen. „Verdammt! Wie kommst denn Du daher?“ schrie er ihn an.

„Mutter –“ klang es ängstlich, leise durch den schwülen Raum.

„Ein gewisser Thomas Wachhorst rettete ihn am Wehre der Stadtmühle aus dem Flusse; für die Mutter, Ihre Frau, war es schon zu spät, sie ist tot. Es liegt offenbar Selbstmord vor.“

Scharf, wuchtig wie Schwerthiebe klangen die Worte. Davis senkte den Kopf auf die Brust, ein schwerer Seufzer entrang sich ihm, ein unterdrücktes Aechzen, dann ward es ganz still.

Der Assessor blinzelte forschend unter dem grünen Schirme hervor; der Schutzmann, der den Kleinen gebracht hatte, legte eine Visitenkarte auf den Tisch und flüsterte mit dem Reviervorstand. Da hallte plötzlich ein wilder, schmerzzerrissener Ausruf durch den Raum: „Marie!“

Erschrocken fuhr der Beamte in die Höhe. Davis lehnte an der Wand, das Gesicht in beide Fäuste vergraben, heftig schluchzend. Einen Augenblick ging es wie Mitleid über die strengen Züge des Assessors, und unwillkürlich gewann seine Stimme einen weicheren Klang, als er jetzt zu dem Gefangenen sprach:

„Ich kann Ihnen zugleich eine sehr tröstliche Mittheilung machen; Frau Kommerzienrath Berry, die Gattin Ihres ehemaligen Dienstherrn, kam zufällig an der Stelle vorbei, wo das Unglück geschehen war, und erfuhr den Thatbestand; sie bietet sich großherzig an, Ihren Sohn zu sich zu nehmen und auf ihre Kosten erziehen zu lassen. Sie werden selbstverständlich gegen diesen Vorschlag nichts einzuwenden haben. Bei Ihrer Aufführung kann das Kind ohnehin nicht Ihnen überlassen werden und müßte in ein Asyl für verwahrloste Kinder.“

Davis lachte gell auf. „Die Berry? Respekt! Zuerst die Mutter ins Wasser hetzen und dann den Buben gnädigst annehmen! O, was die Leute für ein braves Herz haben, die Blutsauger – die –“ Er ballte die Fäuste.

„Mäßigen Sie sich und lassen Sie das Gefasel!“ entgegnete der Beamte. „Niemand anders hat Ihre Frau ins Wasser gehetzt als Sie selbst durch Ihren sträflichen Leichtsinn.“

„Ah so, ich! Natürlich! Wenn unsereiner sich einmal einen lustigen Tag machen will, dann heißt’s gleich. das ist ‚sträflicher Leichtsinn‘, der Kerl ist ein Lump! Und so ein ehrenwerther Herr Kommerzienrath kann keinen ‚Lumpen‘ brauchen und jagt ihn fort ins Elend mit Weib und Kind! Und das praßt und verschwendet das ganze Jahr drauf los!“ Mit leidenschaftlicher Wuth hatte er die Worte hervorgestoßen, nun hielt er inne, sein Blick traf auf das furchtsam zusammengekauerte Kind. Die Hand, die er drohend erhoben hatte, fiel herunter, und nach einem sekundenlangen Schweigen fuhr er gepreßt fort: „Na, meinetwegen sollen’s ihn haben, den Burschen, der armen Marie zulieb. – Herrgott, ist’s denn möglich?“ Die Kraft schien ihn zu verlassen, er schwankte bedenklich; der Beamte gab dem Gefängnißwärter ein Zeichen.

„Sie können gehen, morgen werden Sie entlassen.“

Davis wurde abgeführt. Noch einmal blieb er vor dem ihn regungslos anstarrenden Kinde stehen. „Hansl,“ sagte er zärtlich, „b’hüt’ Dich Gott, Du hast’s gar nicht schlecht errathen.“

Er streckte dem Knaben die Hand hin, doch dieser ergriff sie nicht und zog sich scheu zurück. Davis lachte hÖhnisch und machte eine wegwerfende Bewegung. „So – ich bin Dir jetzt schon z’schlecht? Auch recht!“ Damit schritt er zur Thür hinaus.

Die Feder kreischte wieder über das Papier, das Gas strömte sausend aus der Röhre und draußen klatschte unausgesetzt der Regen gegen die Fenster.

„Eine schlimme Woche – schon der dritte Selbstmord in unserem Bezirk!“ bemerkte kurz der Beamte.

„Weihnachtswoche – ist immer so! Da spürt jeder doppelt sein Elend!“ meinte der Schreiber mit einem schweren Seufzer.


2.

Die Werkstätten bei Berry wurden heute schon um zwei Uhr nachmittags geschlossen; um fünf Uhr sollte, wie alljährlich, in dem großen Versammlungssaal die Weihnachtsbescherung für die Arbeiter und Beamten der Fabrik abgehalten werden. Der Kommerzienrath hielt streng auf diese schöne Sitte; er liebte es, bei solchen Gelegenheiten wie ein „Familienvater“ unter seinen Arbeitern zu erscheinen, und behauptete seinen Freunden gegenüber, durch diese kleinen Scherze, die ja nicht einmal viel kosten, könne man am besten über den unzufriedenen Geist der Leute Herr werden, darin seien sie wie die Kinder. Er ging von dem Grundsatz aus, man müsse wohl beitragen zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Klasse, aber dabei in allem den Charakter der Wohlthat, der freien Gnade wahren. Wo jedoch von den Arbeitern diese Verbesserung als ein Recht in Anspruch genommen werde, da sei jedes Zugeständniß, auch nur die geringste Nachgiebigkeit ein Unding, eine Verkehrung aller Ordnung, der Ruin der Industrie. So verwandelte sich unter der Hand seine Bereitwilligkeit zum Helfen in Härte.

Berry stammte aus einer franzosischen Emigrantenfamilie, und das blaue Blut der Marquis von Berry war bei ihm durch Vermischung mit deutschem Kaufmannsblut zu einem zähen Saft geworden, der den stürmischen Wallungen einer aufdämmernden neuen Zeit widerstand.

Die Bescherung für die Arbeiter ging infolge seines Systems mit steifer Förmlichkeit vor sich; es war ein souveräner Gnadenakt, der sich da vollzog, und die Beschenkten waren sich dessen nur zu gut bewußt.

Zwei riesige Christbäume waren mit reellen Eßwaren behangen, unter denen sich die Zweige bogen. Auf einem großen hufeisenförmigen Tische lagen die eigentlichen Gaben ausgebreitet, nützliche Gebrauchsgegenstände, mit peinlicher Genauigkeit vertheilt. In der Mitte des Saales stand Berry mit seiner Frau und zahlreichen Gästen, die nach diesem Akte noch zu einer festlichen Bescherung in der Villa und zu einem daran sich anschließenden glänzenden Mahle geladen waren. Der Kommerzienrath befand sich im feierlichsten Gesellschaftsanzug, eine Reihe Orden glänzte an seiner Brust.

Auf ein Zeichen von ihm öffneten die Diener eine Flügelthür, und geführt von den ersten Beamten, erschienen in geschlossener Marschordnung die Arbeiter mit ihren Kindern und Frauen.

„Meine lieben Leute!“ begann der Fabrikherr in gehobenem Tone und hielt die mit geringen Abweichungen sich alljährlich wiederholende Rede, in der stets an die Zusicherung der gerechtesten Behandlung die dringende Aufforderung geknüpft war, in Anbetracht dieser Thatsache nie die Anhänglichkeit und Dankbarkeit außer acht zu lassen.

Die Leute hörten stumm und theilnahmlos die gewohnten Worte an, aus denen ihnen nicht die leiseste innere Wärme und Theilnahme entgegentrat, und stimmten am Schlusse der Rede begeisterungslos ein in das „Hoch“ auf das Haus Berry welches der Fabrikdirektor ausbrachte. Dann traten sie einzeln vor, um aus der Hand der gerührten Frau Kommerzienrath – wie jedes Jahr hatte sie auch heuer nach der Ansprache mit Thränen in den Augen dieser Rührung durch eine Umarmung des Gatten Ausdruck gegeben – die Geschenke zu empfangen. Sie gab reichlich, sparte auch nicht mit herablassenden Worten, allein nur einen Augenblick die Kluft zwischen der in kostbarer Robe prangenden vornehmen Dame und den schlichten, ärmlich gekleideten Arbeiterfrauen zu überbrücken, das verstand sie nicht. Das hätte nur die Liebe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_456.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2024)