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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

in demselben Raume eine Schwere von 163,7 Gramm besessen haben, für den Kleinhandel also wenig brauchbar gewesen sein. Man zog es aus diesem Grunde vor, den zehnten Theil dieses Gewichtes, d. h. 16,37 Gramm, als Normalgewicht für das Gold anzusetzen, das sogar von den Hebräern unter dem bekannten Namen des Sekel entlehnt wurde. Aus dem Fünfzigfachen des Goldlothes oder Goldsekel schuf man ein „schweres“ Goldpfund von 818,6 Gramm Gewicht, dessen Hälfte – 409,3 Gramm – als das „leichte Pfund“ bezeichnet wird. In gleicher Weise verfuhr man mit dem Silbergewicht.

Auf den Straßen des Verkehrs in den ältesten Kulturländern der Welt begann dann das Pfund nach seinen verschiedenen Werthen die langen Wanderungen anzutreten, und am Nil wie an den Ufern des Euphrat und in Vorderasien bis zum Mittelmeer hin fand es überall seinen Eingang. Und als man nach dem 7. Jahrhundert vor Christi Geburt wirkliches Geld zu münzen begann, war es das Pfund oder, wie man es mit seinem semitischen Namen bezeichnete, die Mine mit ihren Theilstücken, welche die Grundlage der gestimmten Geldprägung bildete. Die Wissenschaft der antiken Numismatik kann dieser Grundlage nicht mehr entbehren, und die modernen Meister und Lehrer derselben gehen selbst bei der Betrachtung der griechischen und römischen Münzverhältnisse von dem ägyptisch-babylonischen Pfunde aus, wobei die Längen- und Hohlmaße nach derselben uralten Quelle selbstverständlich nie aus den Augen verloren werden.

Im Verlaufe der Jahrhunderte wanderte das Pfund von den Rändern des Mittelmeeres nordwärts von Land zu Land, von Ort zu Ort, und fand allenthalben unter den europäischen Völkern willige Aufnahme; und ist es auch in den Kulturstaaten jetzt mit wenigen Ausnahmen durch das metrische System verdrängt worden, ja droht es in Zukunft von dem Schauplatz seiner Herrschaft ganz und gar zu verschwinden – die Erinnerung daran hat sich gewohnheitsmäßig beim Volke bis in unsere Tage hinein erhalten, und erst dem jungen Geschlecht wird es vielleicht gelingen, es aus seinen Berechnungen zu streichen.

Die Wanderungen des Pfundes lassen sich geschichtlich verfolgen, und wenn sich auch niemand bisher der Arbeit unterzogen hat, seinen Spuren genau nachzugehen, so läßt sich doch der Nachweis führen, wie trotz kleiner Verändernngen an dem ursprünglichen Gewicht seine uralte Grundform überall wieder hervortritt.

Wenn man in Wien das Pfund Chokolade zu 490 Gramm ansetzt, in Augsburg das Pfund Frohngewicht auf 490,87 Gramm abschätzt, in Holland ein sogenanntes Troy-Pfund zu 492,17 Gramm, in Brüssel ein schweres zu 492,15 Gramm, in Lüttich ein Pfund zu 492 Gramm (für Gold und Silber) rechnet, so weisen diese Zahlen wie mit dem Finger auf das uralte leichte Pfund oder die leichte Mine von 491,16 Gramm hin, und es ist mehr als nur wahrscheinlich, daß die europäischen Pfundgewichte von kleinerer oder größerer Schwere, wie das Pariser zu 489,5, das hannöverische zu 489,63, das Baseler zu 493,24 Gramm u. a. m., ihren Ursprung demselben alten Grundgewicht der Mine zu danken haben.

Dieses für das allgemeine Gewicht in Babylon und in Aegypten erfundene Minenpfund war aber so entstanden, daß man es nicht aus dem Fünfzigfachen, wie beim Golde, sondern aus dem Sechzigfachen des leichten Goldsekels von 8,186 Gramm nach genauestem Gewicht herstellte; 60 X 8,186 Gramm ergiebt das angeführte Gewicht von 491,16 Gramm. Von diesem Sachverhalt hatten die Leute in Oesterreich, Bayern, Belgien und Holland wohl kaum eine Ahnung, als sie dem uralten Pfunde die gastliche Thür öffneten und es zum Eintritt in ihre Städte einluden. Wenn in Italien die Stadt Mailand sich eines „leichten“ Pfundes von 326,79 Gramm bedient, was ganz verschieden von der eben erwähnten Grundlage zu sein scheint, so führt auch diese Zahl zu einem bekannten antiken Gewicht hinüber und der Zusammenhang mit dem Pfunde von 491,16 Gramm tritt offenkundig zu Tage. Das Doppelte nämlich dieser leichten Mine beträgt 982,32 Gramm und bildete die sogenannte babylonische schwere Gewichtsmine; als deren Drittel mit dem Gewicht von 327,45 Gramm ist das altrömische Pfund oder die Libra den Metrologen vollkommen bekannt. Vom alten Rom bis zum heutigen Mailand ist ein langer zeitlicher Weg, aber dennoch hat das Pfund auf seiner Wanderung nach Mailand nur eine winzige Kleinigkeit eingebüßt.

Die Mine des Wassergewichtes oder das Gewicht eines mit Wasser angefüllten Hin-Maßes, des Liters der alten Aegypter, wog 455 (genauer 454,79) Gramm. Das englische „Avoir-du-poids-Pfund“ mit seinem Gewicht von 453,59 Gramm hat diese alte Mine verewigt, während in dem St. Petersburger Pfunde von 409,51 Gramm Schwere sich das Gewicht der Mine des leichten Goldtalentes, 409,3 Gramm, mit erstaunlicher Genauigkeit erhalten hat, ohne daß wir sagen können, wann und unter welchen Umständen die letztere nach dem Ufer der Newa gewandert ist.

Fällt es weniger auf, daß das alte Berliner Pfund von 467,71 Gramm Gewicht, nur mit Unterschieden in Gramm-Bruchtheilen, in den ehemaligen Pfundgewichten mehrerer deutscher Städte wie Gera (467,21), Leipzig (467,27), Gotha (467,70), Kassel (467,81) und Frankfurt am Main (467,91) wiederkehrt, so ist schon schwieriger, seinen Zusammenhang mit dem Pfundstück von Basel (467,71), Brüssel (467,67) und Lüttich (467,09) zu erfassen und auf geschichtlichem Wege zu begründen. In Fällen wie in dem vorliegenden empfiehlt es sich, die aufklärende Macht des altägyptischen Lothes oder der Fünfzigstelmine von 9,09 Gramm zu erproben, die sämmtliche antike Gewichte beherrscht und sich bis zu den von ihnen abgeleiteten modernen ausdehnt. Mit Hilfe dieser Gewichtseinheit läßt sich das Berliner Gewicht von 467,71 Gramm auf die um etwa 12 Gramm erhöhte alte Mine von 454,79 oder rund 455 Gramm zurückführen, läßt sich also eine Vergrößerung des Urlothes von 9,09 Gramm anf 9,35 Gramm erkennen. Daß darin kein bloßes Spiel des Zufalls verborgen liegt, dafür treten ähnliche Vorgänge im Alterthum zum Beweise ein. Wer sich genauer mit dem Studium des babylonisch-asiatischen Gewichts- und Geldwesens beschäftigt hat, kommt sehr bald zu der Erkenntniß, daß z. B. in der Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. eine prozentmäßige Erhöhung der älteren Gewichte stattfand. Hatte beispielsweise die ältere Gewichtsmine oder, nach unserer Weise zu reden, das alte Pfund eine Schwere von 491,16 Gramm, so entstand später daraus das sogenannte „königliche“ Pfund mit dem erhöhten Gewicht von 511,6 Gramm, das in seiner jüngsten Gestalt in dem alten Pfunde von Nürnberg zu 510, in dem Pfunde von Fulda zu 509,97 und in dem Prager zu 514,39 Gramm wiederkehrt.

In Bayern war es vor allen übrigen Orten die Stadt Nürnberg, welche auf dem Wege über die Alpen die antiken Gewichte an sich gezogen hatte. Es ist bekannt, daß das Nürnberger Medizinalgewicht mit seinem Pfunde von 357,83 Gramm sich über einen großen Theil des nördlichen Europa verbreitete, ohne seinen uralten Ursprung bis jetzt verrathen zu haben. Es galt aber zunächst in Nürnberg als dreiviertel Pfund Silbergewicht, das letztere besaß somit als volles Pfund eine Schwere von 447 Gramm, die von der des altägytischen Wasserpfundes nur um etwa sieben Gramm unterschieden ist. So ließen sich die Beispiele erheblich vermehren, um den engen Zusammenhang zwischen dem Alten und Neuen auch durch Pfundgewicht zu bestätigen. Wie die Buchstabenschrift, so wanderte die antike Mine, die eigentliche Mutter unseres modernen Pfundes, von den ältesten Kulturländern im Osten nach den Ländern und zu den Völkern im Westen und legte bis zur geprägten Münze hin den Grund zu den folgereichsten Errungenschaften des Kulturlebens. Die Mine schlug ihr Reich an allen Stationen auf, wo der Mensch große Märkte und Mittelpunkte für den Handelsverkehr geschaffen hatte und wo der fremde Kaufmann mit dem einheimischen den Warenaustausch nach Maß und Gewicht vollzog. Daß sich die Mine in ihrer modernen Gestalt als Pfund Tausende von Jahren hindurch als treue unzertrennliche Begleiterin des Kaufmanns bewährt hat, davon liefert ihr fast unverändert gebliebenes Gewichtssystem das beredteste Zeugniß. Selbst das moderne metrische System hat sie nicht ganz aus unserer deutschen Heimath verdrängen können. Ein halbes Kilogramm wird bekanntlich mit dem ehemaligen deutschen Zollpfund von 500 Gramm zusammengestellt, das sich nur um kaum neun Gramm von dem alten Minenpfund unterscheidet. Wie ein Phönix aus der Asche des alten, so ist die Hälfte des modernen Kilogrammes oder das deutsche Zollpfund aus der nach einem mehr als fünftauseudjährigen Dasein absterbenden Mine der Vorzeit an das Licht der Neuzeit emporgestiegen, um nach wie vor der Menschheit seine Dienste zu leisten. Und das ist das Wunderbare, daß seine Wiege in der Sonnenscheibe verborgen liegt.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 470. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_470.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2024)