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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

schwer. „Sie thäten Dich doch allweil wieder finden. Und ... Herr Henrich hat ja gesagt, daß es Dein Glück sein wird ... Dein Glück! Da thät’ ich mir doch lieber die Zung’ abbeißen, als daß ich eine Widerred’ hätt’, und gar jetzt, wo ich durch meine Unsinnigkeit das Unglück über Deinen Bruder gebracht hab’!“

„Du? Ueber ihn?“ flog es mit bebenden Lauten von ihren Lippen. „Es ist halt gekommen, wie es hat kommen müssen. Wenn ich Du gewesen wär’, ich hätt’ das arme Hundl auch nicht im Stich gelassen ... und wenn ich der Wolfrat gewesen wär’, ich hätt’ auch zugegriffen und den Bär’ gepackt, wenn er mich gleich zerrissen hätt’ in lauter Stückl.“

Haymos Augen blitzten, als das Mädchen so vor ihm stand mit funkelndem Blick, die Fäuste vorgestreckt, die Lippen halb offen, daß man die übereinander gepreßten Zähne sah. „Gittli!“ stammelte er, und ein Wort, welches heiß und gewaltsam empordrängte aus seinem Herzen kämpfte gegen den erlöschenden Willen, der es unterdrücken wollte. Da stürzte Walti in die Stube. „Dirn’, mach, daß Du weiter kommst! Der Frater Küchenmeister hatschet den Gang herauf . . . gleich wird er da sein!“

Bleich und zitternd stand das Mädchen, nach Athem und Worten ringend. „Ich ... ja ... ich geh’ ja schon ... aber sag’ mir, Haymo, sag’ ... schau, oder ich kann nicht gehen ... sag’, Haymo, bist mir noch allweil harb?“

„Ich? Harb sein? Dir?“ stotterte er. „Ja wie kannst denn auf so was denken?“

Da lachte sie in Thränen und von dem Buben fortgerissen, schwang sie sich auf die Fensterbrüstung. „Behüt’ Dich Gott, Haymoli!“ stammelte sie. Er streckte die Arme nach ihr, sie zögerte ... aber Walti versetzte ihr einen Puff, daß sie wankte und springen mußte. Draußen klang noch die flüsternde Stimme des Buben, ein Rascheln im Gebüsch – und alles war stille.

Haymos Augen hingen am leeren Fenster. „Jetzt seh’ ich sie nimmer . . . nimmer . . . nimmer . . .“ Schluchzend fiel er zurück und schlug die Arme über das Gesicht.

Die Thür begann zu zittern unter den schweren Tritten, die sich näherten. Haymo biß die Lippen übereinander und trocknete die Augen.

Der Frater Küchenmeister kam, um seinem jungen Freunde den ersten Krankenbesuch abzustatten. Als er sich auf den Rand des Bettes niederließ, krachten die Bretter in allen Fugen. Er begann fröhlich zu plaudern, rühmte die göttliche Vorsehung, welche alles Bose für Haymo zum guten gewendet habe, und jammerte über das schlimme Aussehen des Jägers, über seine Blässe und den matten Blick seiner Augen. „Aber warte nur,“ sagte er, „ich will Dich schon wieder herausfüttern wie ein Hühnl, das den Zipf gehabt hat. Ja, und daß ich nicht vergesse . . . ‚Vergelt’s Gott!‘ will ich Dir auch sagen. Der Knecht, der heut’ mit dem Saumpferd gekommen ist, hat mir die Nießwurzen gebracht. Da hast mir schon die schönsten ausgesucht! Hast Du sie aber auch zur guten Zeit gegraben? Hat die Schneeros’ auch schon völlig verblüht gehabt?“

Ein Zittern ging über Haymos blasse Wangen. „Ja, Frater ... die Schneeros’ hat ausgeblüht ... für mich!“ Da war seine Kraft zu Ende. Laut schluchzend warf er sich gegen die Wand, so daß der Frater erschrocken aufsprang. – –

Gittli hatte den Platz vor dem Thor der Klostervogtei gerade erreicht, als die Oberin zurückkam, von Herrn Heinrich begleitet. Der machte verwunderte Augen, als er das Mädchen gewahrte. „Ich hab’s ja doch gewußt!“ flüsterte die Oberin. Er nickte dem Mädchen einen freundlichen Gruß zu und trat in das Thor zurück.

„Denke nur, Dirnlein,“ lächelte die Oberin, „Herr Heinrich hat mich gescholten, um Deinetwillen, weil ich Dich allein ließ. Er glaubte wahrhaftig, Du würdest davonlaufen.“

Ein müdes Lächeln huschte über Gittlis Lippen, und von der Mauerecke her ließ sich ein Kichern hören. Die Oberin blickte sich um, aber Waltis Nase war schon hinter der Mauer verschwunden.

Als Gittli das Klösterlein erreicht hatte, ließ sie alles mit sich geschehen, stumm und geduldig wie ein Lamm, das geschoren wird. Die neuen Kleider, die man ihr anlegte, weckten keinen hellen Blick in ihren Augen, kein Wörtlein der Ueberraschung auf ihren Lippen. Sie schämte sich wohl, als sie das lange, blaue Gewand nach der Sitte der Zeit bis über die Schultern ausgeschnitten sah; aber sie sagte nichts, denn sie bekam ja auch gleich ein weißes, bis zu den Ellbogen reichendes Mäntelein um den Hals. Ein Gürtel aus weißem Leder umspannte die schlanke Hüfte. Um die Stirn und das offene Haar wurde ein blaues Band geknüpft. Als sie aber nun die gelben Schuhe mit den scharfgespitzten, spannenlangen Schnäbeln an den Füßchen hatte, schaute sie doch mit scheuen Augen an sich hinunter.

Die Oberin und die beiden dienenden Schwestern lachten hell auf, als Gittli so hilflos stand, mit seitwärts gestreckten Armen, als wage sie das Kleid nicht zu berühren; sie zitterte und getraute sich keinen Schritt mehr zu thun, denn wenn sie auftrat, so knickten die unheimlichen Schnäbel gleich spitzigen Dolchen in die Höhe. Und je lauter die anderen lachten, desto näher kam ihr das Weinen. Plötzlich stürzte sie der Thür zu und als sie dieselbe verschlossen fand, sank sie schluchzend zu Boden.

Man hob sie auf, man schalt und tröstete, man säuberte das verstaubte Kleid, und dann wurde sie zu Sepha hinüber geführt, damit sie von der Schwäherin und dem Büblein Abschied nehmen möchte.

Vor der Mauer des Klösterleins wartete eine Sänfte, welche zwischen gegabelten Stangen von zwei Maulthieren getragen wurde. Man mußte Gittli hineinheben; aus freien Stücken wäre sie nimmer eingestiegen. Die Oberin setzte sich zu ihr. Zwei Knechte führten die Mautthiere, und ein dritter, der gewaffnet war, ritt nebenher. Die Leute auf der Straße blieben stehen, als sie die Sänfte kommen sähen und guckten neugierig hinein aber niemand erkannte die Schwester des Sudmanns; ihr schmales, blasses Gesichtchen verschwand fast in der weißen, über dem Scheitel steif aufgeschnäbelten Haube, die man ihr für die Reise aufgesetzt hatte.

Da gingen zwei Dirnen vorüber; eine brennende Röthe flog über Gittlis Wangen: die beiden Dirnen, das waren die Zenza und eine Magd des Eggebauern.

„Du, da schau,“ flüsterte die Magd, „was ist denn das für ein Fräulen?“

„Ich kenn’s nicht,“ sagte Zenza, in die Sänfte spähend, „es muß ein Fremdes sein.“

Die Sänfte war vorüber; wie ein Schwindel fiel es über Gittli, alles wirbelte vor ihr. Die Häuschen an der Straße, das Sudhaus, dem sie sich näherten, die rauschende Albe mit Ufer und Bäumen, der Berg mit dem Kloster, alles, alles versank vor ihrem Blick ... und mit einmal war ihr, als sehe sie nichts anderes mehr denn eine weite weite sonnige Alm; grasend, mit läutenden Glocken ziehen die Kühe, und in der Sennhütte singt eine Mädchenstimme, da kommt vom Bergwald ein Jäger über das Almfeld hergegangen, vor der Hütte steht er still, lehnt das Griesbeil an die Blockwand und stoßt die genagelten Schuhe gegen die Schwelle; die singende Stimme verstummt, der Jäger aber fragt: „Darf man einkehren, Sennerin?“ Aus der Hütte klingt die lachende Stimme der Zenza: „Freilich, freilich, Haymo, komm’ nur herein!“ ...

Die Frau Oberin in der Sänfte war erschrocken aus ihren Gedanken erwacht, denn das Mädchen an ihrer Seite hatte sich mit gellendem Schrei die weiße Haube vom Kopf gerissen, war aufgesprungen und wollte sich aus der Sänfte stürzen.

„Aber Kind! Kind!“ stammelte die Oberin, Gittli mit beiden Armen umschlingend. Der gewaffnete Knecht kam herbeigesprengt ... mit starren Augen blickte Gittli zu ihm auf, dann fiel sie in die Polster zurück und schluchzte und drückte die Fäuste auf die Brust, als wäre ihr das Herz zersprungen.

Ein paar Leute waren zusammengelaufen, aber die Knechte trieben die Maulthiere an, und immer rascher, immer weiter schwankte die Sänfte.




23.

Am anderen Morgen wandelte Herr Heinrich zu früher Stunde im Garten auf und nieder. Was war in diesen wenigen sonnigen Tagen alles gewachsen und erblüht! Alle Bäume und Sträucher standen in vollem Grün, und jeder Windhauch war gewürzt mit den süßen Düften der jungen Blumen.

Frater Severin arbeitete an einem kahlen Beet. Er stand, um sich das Bücken zu erleichtern, mit weit gespreizten Füßen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_474.jpg&oldid=- (Version vom 27.3.2021)