Seite:Die Gartenlaube (1892) 488.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


helfen. Deine Mutter kannst Du Dir wohl noch denken, so ein Gesicht vergißt sich nicht leicht. Aber auch Deinen Vater?“ Hans schauerte zusammen. „Rede! Erinnerst Du Dich nicht mehr an ihn, an das Zimmer, in dem Du ihn zum letzten Male gesehen hast? Du saßest auf einer Bank, er reichte Dir die Hand zum Abschied, Du jedoch schrecktest vor ihm zurück – erinnerst Du Dich nicht?“

„Ja, ich erinnere mich, und dieser Mann –“

Hans blickte starr in das finstere Gesicht vor ihm, seine Hand schob zitternd den großen Hut zurück.

„Und dieser Mann bin ich,“ flüsterte der Unbekannte. „Jakob Davis, Dein Vater, der weit hergekommen ist, Dich zu besuchen.“

Vor den Augen des jungen Mannes tanzten tausend Funken, die Knie wankten ihm, nur ein Gedanke beherrschte ihn – Claire! Sie durfte nichts davon erfahren, und gottlob – sie wird nichts ersahren, weil sie morgen abreisen wird, um jahrelang in der Ferne zu bleiben; bis dahin – weiter dachte er nicht.

„Du bist nicht sehr erfreut, Junge,“ brach Davis das plötzliche Schweigen. „Dachte mir’s schon. Begreif’ es auch. Aber sei nicht blöd’, es fällt mir ja nicht ein, Dich zu holen – hab’ mit mir selber genug zu thun. Und es soll’s auch niemand erfahren, daß ich hier bin, hörst Du? Es liegt mir sehr viel daran; wenn meine Anwesenheit bekannt würde, wär’s verteufelt unangenehm für uns beide. Ich wollte nur einmal sehen, was sie aus Dir gemacht haben. Mir ging’s schlecht die letzte Zeit. Hab’ gearbeitet wie ein Thier damals, als ich von Dir fort mußt’; die dumme Reue, die Verlassenheit, mein Elend trieb mich dazu – man vergißt eher dabei. Aber der Teufel hol’s, wenn ich mich so ein Jahr lang schinde, ohne links oder rechts zu sehen, da packt mich plötzlich da drin eine Wuth, auch einmal das Leben zu genießen wie andere Menschen, und dann giebt’s immer ein Unglück – ich vertrag’s nicht, aus dem rechten Zuge zu kommen. Doch das verstehst Du ja nicht; also kurz und gut, ich machte eine Dummheit, für die ich vier Jahre sitzen mußte. Eine schlechte Ehre für Dich, nicht wahr – für immer wäre Dir wohl lieber! Aber es hat halt nicht gereicht, bei Gott, mir wär’s gleich gewesen, ’s ist hier außen um kein Haar besser. Doch wenn Du klug bist, bleibt’s ja unter uns. Ich will mich nach Arbeit umsehen, man wird mich wohl nicht mehr kennen; und am Ende bist Du doch mein Sohn, das läßt sich nicht abkaufen. In ein paar Jahren [wird] aus Dir ein gemachter Mann, Du bist im rechten Fahrwasser, dann wirst Du Deinen Vater nicht im Stiche lassen – und der alte Vater Dich auch nicht, wenn Dir einmal der Rummel zu dumm wird; so was steckt doch im Blute! Bin also dann immer bereit – Vater und Sohn müssen zusammenhalten. Wenn Du einen Rath brauchst – ich wohne in der Kleegasse Nummer 36, unterm Dache, frage nur in der Kneipe unten nach dem ‚Schwarzen Jakob‘! Im übrigen kannst Du ruhig sein, ich werde Dir nicht lästig fallen, außer wenn ich sehe, daß Du mich absichtlich vergessen willst – dann müßt’ ich mich melden, mein Junge –“

Fürst Bismarck beim Fackelzug auf der Terrasse des Lenbachschen Hauses.
Nach einer Zeichnung von Fritz Bergen.

Hans war noch zu unerfahren, um die Anspielungen seines Vaters ganz zu verstehen, aber soviel war ihm klar, daß ein Gefallener vor ihm stand, der daran war, ihm qualvolle Ketten anzulegen. Seine Jugend war in diesem Augenblick zu Ende, er wurde plötzlich zum Manne, den ein jäher Ingrimm erfaßte über das häßliche Spiel, welches das Schicksal mit ihm trieb von seiner Kindheit an. Wenn er mit einem Rucke die Ketten sprengte! Der Zorn erstickte jede andere Stimme in seinem Innern, mit einer wilden Bewegung schüttelte er die Hand ab, die noch immer auf seiner Schulter lag. „Laß mich, Du hast kein Recht mehr auf mich! Du hast mich verschenkt, nachdem Du die Mutter ermordet!“

„Bube, ich erwürge Dich!“ Zwei Fäuste umklammerten seinen Hals, zwei Augen leuchteten drohend dicht vor ihm.

„Jawohl, ermordet, in den Tod gehetzt!“ ächzte der Angegriffene.

Fester schnürten sich die Finger zu, die Lichter im Hofe, in der Fabrik flimmerten wirr durcheinander vor seinen Augen. Er fühlte die Besinnung schwinden, in der nächsten Sekunde mußte ein furchtbarer Mord geschehen. Da erblickte er eine weibliche Gestalt, sie hob sich dunkel ab gegen den Lichtkreis einer Laterne vom Polierhaus her – es war Claire!

Mit der Kraft der Verzweiflung rang er gegen die eiserne Umklammerung, das Hemd, der Rock zerriß, aber es gelang ihm, sich loszumachen, und hochaufathmend stürzte er auf Claire zu. Gewiß, sie war gekommen, um Abschied zu nehmen! Das Dunkel mit seinem Grauen lag hinter ihm, vor ihm flammendes Licht, das aus der geöffneten Thür der Arbeitshalle strömte, und von dem lodernden Scheine phantastisch beleuchtet, ängstlich sich umschauend, Claire – ein Mantel umhüllte ihre Gestalt, unter der weißen Kapuze schimmerte das Goldhaar. Wie einst kam sie, ihn zu retten von finsteren Gewalten.

„Claire!“ rief er, keuchend in den Lichtkreis springend.

Sie wich erschrocken zurück. Er war aschfahl, das Hemd war aufgezerrt, der Rock in Fetzen gerissen, das Haar zerrauft, in dem irren Auge lag noch das Entsetzen im Streit mit jäher Freude.

„Du kommst, um Abschied zu nehmen, zu mir – zu mir! Du, Claire, zu mir!“ Er lachte und weinte zugleich, er ergriff ihre Hand, preßte sie an die Lippen und überströmte sie mit Thränen.

Sein Anprall war zu heftig, zu ungewohnt. Das war nicht mehr ihr Spielgenosse – ein fremder wilder Mann stand vor ihr, vor dem sie bebte. Der Vater hatte ihr verboten, von Hans Abschied zu nehmen, sie jedoch wollte nicht reisen, ohne dem armen Jungen Lebewohl zu sagen. Aber er hatte doch recht gehabt, der Vater.

Oder kam ihr das alles nur so unheimlich vor hier

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 488. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_488.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2024)