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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


ist heute früh abgereist nach Paris.“ Er verwandte die Augen keine Sekunde von Hans, der jetzt heftig erröthete. „Sie wird zwei, vielleicht auch drei Jahre dort bleiben. Eure Lebenswege trennen sich von nun an, darum fand ich es auch für gut, daß ein Abschied unterbleibe. – Sie wissen, daß Sie Verpflichtungen gegen mich haben, und die Bestimmungen, die ich nun treffe, sollen Sie in die Lage versetzen, ihnen nachkommen zu können. Ich werde Sie von morgen an im Werke beschäftigen und zwar sollen Sie sofort eine bezahlte Stellung einnehmen. Ich habe meine strengen Ansichten. Sie sind dem Arbeiterstand entsprossen, auf diesem Bodett sollen Sie auch wachsen – das Umsetzen taugt nichts. Sind Sie der rechte Mann, so können Sie sich trotzdem emporschwingen.“

Die Augen des Jünglings leuchteten auf, eine dunkle Röthe stieg ihm ins Gesicht bei den letzten Worten.

„Sie treten morgen als Gehilfe in die Monteurabtheilung; wie ich höre, haben Sie Geschick für das Maschinenwesen, und dort ist die beste Schule. Ich werde Sie nicht aus den Augen verlieren und erwarte, daß Sie Ihre Pflicht thun, schon aus Dankbarkeit für das, was Ihnen erwiesen wurde. Außerdem wird es sich empfehlen, daß Sie sich weder Ihren Kameraden noch Ihren Vorgesetzten gegenüber auf Ihr Verhältniß zu mir berufen –“

„Das habe ich auch bisher nie gethan!“ warf Hans ein.

„Ich rechne darauf,“ fuhr Berry ruhig fort, „in Ihnen einen treuen Diener des Hauses Berry zu erziehen, der sich von allen, uns Arbeitgebern feindseligen Bestrebungen fern hält! Sie sind ja ein lebendiges Beispiel, daß der Vorwurf der Härte, der Ungerechtigkeit, des Eigennutzes, der Bedrückung, den man immer wieder gegen uns schleudert, eine gemeine Lüge ist. Beherzigen Sie das! – Haben Sie gegen meine Verfügung etwas einzuwenden?“

Hans stand wortlos da – seine Befürchtungen hatten sich in das Gegentheil, in die Erfüllung seines heißesten Wunsches verwandelt; er schämte sich seiner aufrührerischen, undankbaren Gedanken im Vorzimmer. Jetzt erschien ihm Herr Berry wirklich als Wohlthäter. Thränen traten ihm in die Augen, und in überströmendem Gefühl ergriff er die weiße Hand, die vor ihm auf der Stuhllehne lag, und küßte sie.

„Nichts, nichts mehr hab’ ich zu sagen,“ stammelte er, „als daß ich nie vergessen werde, was Sie an mir gethan haben – daß ich Ihnen Ehre machen werde.“

Bei diesem unverfälschten Ausdruck der Hingebung zuckte doch auch durch das unbewegliche Gesicht des Kommerzienraths etwas wie Rührung, aber nur einen Augenblick – dann waren seine Züge wieder gemessen wie zuvor. „Morgen also, Hans,“ sagte er, ihm zunickend zum Zeichen der Entlassung. Dann aber, wie in plötzlicher Eingebung, setzte er rasch hinzu: „Noch etwas – Sie haben von Ihrem Vater nichts mehr gesehen oder gehört?“

Hans hatte das Gefühl, als bohre sich der Blick der grauen Augen in seinem Gesicht fest. Wußte Berry etwas oder war die Frage nur eine zufällige? Durfte er diesen Mann, der eben seinen innigsten Wunsch erfüllt hatte, belügen? Und war es nicht unklug, ihn zu belügen? Der Kommerzienrath hatte ja die Macht, ihn zu schützen vor dem Vater, dessen Griffe er noch am Halse spürte.

Herr Berry wartete die Antwort nicht ab. „So schlimm es klingt, ich muß Sie warnen vor diesem Manne. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er sich einmal, wenn Sie sich eine Existenz gegründet haben, an Sie drängt, Forderungen an Sie stellt. Er ist tief gesunken und würde Sie nachhaltig bloßstellen. Ich könnte sogar den Umgang eines meiner Angestellten mit einem solchen ... Individuum gar nicht dulden. Ich meine nur, wenn es wirklich so wäre, verstehen Sie mich? Verpflichtungen haben Sie ja keine gegen ihn.“

Hans war glücklich, daß Berry keine Antwort auf seine Frage verlangt hatte, er würde die ganze Wahrheit gesagt haben; so schwieg er und empfahl sich demüthig, als ein nochmaliges gnädiges Kopfnicken ihm sagte, daß er endgültig entlassen sei. –

Im Parke schoß Otto mit einem Revolver auf die Scheibe. Hans vergaß in seiner Freude allen alten Groll, alle Gespanntheit, die zwischen ihnen herrschte, eilte auf ihn zu und erzählte mit gerötheten Wangen, daß er von morgen an ein Angestellter der Berryschen Werke sei und als Monteurgehilfe eintrete.

Otto ließ sich dadurch in seinem Sport nicht stören. „Das ist sehr hübsch – Herr Davis“ – bis jetzt nannten sie sich beim Vornamen – „aber Sie werden begreifen –“ Ein neuer Schuß krachte. „Sehen Sie einmal nach der Scheibe, ich denke, die Kugel sitzt zu hoch – Sie werden begreifen, daß dies unsere Stellung zu einander bedeutend – aber hören Sie denn nicht, Sie sollen nach der Scheibe sehen!“ fuhr er Hans an, der starr über die unerwartete Wirkung seiner freudigen Meldung dastand.

„Das ist mein Dienst nicht, Herr Otto,“ entgegnete Hans scharf; in seinen Augen zuckte es verdächtig.

„... bedeutend ändern muß,“ fuhr Otto fort, ohne scheinbar von den Worten des alten Spielgenossen Notiz zu nehmen. „Bis jetzt waren Sie nichts als ein Anhängsel unseres Hauses, an dessen Vertraulichkeiten man sich einmal gewöhnt hatte; jetzt sind Sie ein Bediensteter, ein Arbeiter. Das ist für mich weniger als nichts. Und was den ferneren Verkehr betrifft – der ist eine platte Unmöglichkeit, in drei Monaten trete ich als Offiziersaspirant in die Armee.“ Wieder krachte ein Schuß. „Jetzt bitte ich Sie aber ernstlich, nach der Scheibe zu sehen, Herr Monteurgehilfe!“

„Und ich bitte Sie ernstlich, sich dazu jemand anders zu suchen als mich. Ich empfehle mich.“

Hans ging.

„Warte nur, Kanaille!“ tönte es ihm nach.

Die hochfahrende Abweisung, die er im glücklichsten Augenblick seines Lebens erfahren mußte, hätte ihm von dieser Seite nicht wehe gethan, aber mit bitterem Schmerze, mit zorniger Entrüstung erfüllte ihn die jähe Einsicht, daß dieser hochmüthige Mensch in seinem Hasse wohl nur die Ansichten seines ganzen Standes aussprach, daß das, wodurch er selbst hoffte, diesen Leuten näher zu kommen – redliche Mannesarbeit, ihn nur weiter von ihnen entfernte, daß er wirklich in ihren Augen als der hilflose Schützling des Herrn Berry mehr gewesen war denn jetzt als einfacher Arbeiter. So war es wohl bei allen – nur bei Claire nicht. Sie rieth ihm ja selbst zu rastlosem Schaffen, wie sollte er sich auch anders emporschwingen? Aber wenn auch sie so denken würde nach den Jahren in Paris, was dann? Er fühlte es heiß heraufsteigen in die Kehle. Dann – dann war alles vorbei, jede Freude, jedes Streben, jedes Dulden und Tragen, dann gab es nur noch Haß – glühenden Haß und Kampf! Die Scene damals, als er Otto mit dem Kindersäbel niederschlug, stand plötzlich klar vor seiner Seele ... so würde es dann wieder kommen, aber nicht mit dem Kindersäbel und nicht mit Otto allein.

Eine wilde Vision stieg vor ihm auf ... geschwungene Arme, wirr durcheinander wogende, von blutigrothem Feuerschein übergossene Männerköpfe, wüstes Gelärm, in Flammen zusammenstürzendes Gebälk, und mitten drin in der wüthenden Menge ein schwarzer Mann mit glühenden Augen, derselbe, der im Schatten der Halle ihn hatte erwürgen wollen – sein Vater.

Blitzartig, wie es gekommen war, verschwand das Gesicht, nur die Gestalt des Vaters wollte nicht von seinen Augen weichen. Der Arme hatte niemand, an den er sich halten konnte, niemand, der ihn liebte und trotz aller bitteren Erfahrungen stets aufs neue versöhnte mit dem Leben, wie Claires Bild bei ihm es that – der Vater hatte auch nicht seine eigenen Kenntnisse und die darauf gebaute Hoffnung, emporzusteigen. – Elend und Noth waren seine Gefährten von jeher und würden es sein bis zum Ende. Und so – in der Brust ewig das fürchterliche Bewußtsein, das er selbst eben auch empfunden hatte, das Bewußtsein, weniger als nichts zu sein, verachtet, niedergetreten – mußte so der Unglückliche nicht Ekel empfinden vor allem höheren Streben, vor seiner ganzen Existenz? Mußte er nicht immer wieder versucht sein, den Kampf gegen die Reichen und Mitleidlosen mit jeder Waffe zu führen, diese „Räuber“ selbst wieder zu berauben? Und nun hatte ihn auch der eigene Sohn zurückgestoßen, mit Vorwürfen überhäuft, weil er sich des Verkommenen schämte – das mußte gut gemacht werden, ehe er sein neues Leben begann. Vielleicht war es auch gar nicht so schlimm mit dem Vater, als Herr Berry es hinstellte, als er selbst geglaubt hatte; vielleicht konnte er ihn retten, auf bessere Wege bringen! Und stand der Vater ihm denn nicht trotz allem am nächsten, näher als Herr Berry, sein stolzer Wohlthäter? Keine unüberbrückbare Kluft lag zwischen ihnen – der Vater war seinesgleichen, ein Arbeiter gleich ihm. Und wer wußte, ob nicht einmal eine Zeit kam, wo er froh war an diesem verachteten Vaterherzen! Er mußte in die Kleegasse, sein Entschluß stand fest.

Bei Merks kümmerte man sich nicht darum, wo Hans seine Zeit verbrachte, so hinderte ihn nichts an der Ausführung seines Planes. Unverzüglich machte er sich auf den Weg, es ließ ihm

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 491. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_491.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2021)