Seite:Die Gartenlaube (1892) 495.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

athmender Brust bis kurz nach drei Uhr im regungslosen Schlummer zu liegen scheint. Um diese Zeit läßt sich am Fußende des Bettes wieder jenes Klopfen vernehmen; es deutet diesmal das Ausziehen der Nägel an und wiederholt sich seltsamerweise nicht auch an den Händen. Nun bringt die Kranke Arme und Beine wieder in die normale Lage, bewegt den Kopf mehrmals nach rechts und links, womit das Einhüllen in das Leichentuch gemeint ist, und liegt dann wieder ganz ruhig. Um drei Uhr zwanzig Minuten öffnet sie die Augen, setzt sich aufrecht, murmelt etwas vor sich hin, verneigt sich dreimal nach allen Seiten und spricht mit verzücktem Blicke, theilweise wieder in der fremden unverständlichen Sprache, ein Dankgebet für das überstandene Leiden.

Nun folgt die sogenannte Verehrung der Hostie, welche der Kranken angeblich durch den Erlöser selbst von oben gereicht wird. Dieselbe beginnt mit Gebeten und Ceremonien, denen ähnlich, mit welchen der konsekrierende Priester das Meßopfer begleitet, dann öffnet die Kranke den Mund, und es zeigt sich auf der Zunge ein weißer Belag in der ungefähren Form einer aufgelösten Oblate, der nach dem Schlucken verschwunden ist und eine leichte Blutspur auf den Lippen zurückläßt, nach den Angaben des Erklärers, eines jungen vielversprechenden Zöglings aus einem Priesterseminar, das mit Wasser vermischte Blut aus der Seite Christi.

Um vier Uhr zwanzig Minuten ist auch dieses Wunder vorüber, und nach einer kurzen, durch Wiederholung der früheren Krampferscheinungen ausgefüllten Pause empfängt die Kranke die Huldigungen ihrer Verehrer, theils geweihte, theils ungeweihte Gegenstände, Rosenkränze, Medaillen etc., vor ihr niederlegen. Angeblich soll sich nun die Kranke vor den geweihten Gegenständen, und zwar nur vor diesen, verneigen; dabei aber täuscht sie sich oft, indem sie auch den ungeweihten ihre Verehrung zu theil werden läßt.

Um halb fünf Uhr beginnt sie sodann mit ganz außerordentlicher Beredtsamkeit den Anwesenden ihre visionäre Leidensgeschichte zu erzählen. Sie schildert, wie sie gegenüber Christus am Kreuz gehangen, mit ihm und der Jungfrau Maria gesprochen, für die armen Seelen im Fegfeuer Fürbitte eingelegt habe, wie sie jetzt noch den Himmel offen sehe, und erklärt sodann, daß sie für die Menschen leiden und sterben müsse; auf die Zwischenfrage, wozu denn dieses Erlösungswerk dienen solle, da es vom Heiland ja bereits für die ganze Menschheit vollbracht sei entgegnet sie mit großer Geistesgegenwart, daß der Heiland für die Menschen gelitten habe, sie aber für den Heiland leide. Die blühende Sprache dieser und anderer, vom stärksten Selbstlob durchtränkter, mit Gebeten, Weissagungen und Moralsprüchen durchsetzter Reden, bei denen die Kranke auch, nicht immer erfolgreich, ihren Dialekt zu vergewaltigen sucht, verräth deutlich die Quellen, aus denen sie ihre, möglicherweise zur fixen Idee gewordenen Eingebungen schöpft. Gegen sechs Uhr abends endlich ist die Komödie zu Ende.

Man kann sich kaum ein vollständigeres, alle bekannten Symptome in so reicher Auswahl umfassendes Beispiel einer sogenannten Stigmatisation denken als das hier vorliegende, keines aber auch, das die blasphemische Ausbeutung dieser krankhaften Erscheinung in ein so grelles Licht setzt. Selbstverständlich lassen sich alle diese Vorgänge, auch die, welche nicht auf plumpem Betrug beruhen, wie beispielsweise das geheimnißvolle Klopfen, ein beliebtes Muskelkunststück der Spiritisten, auf natürlichem oder pathologischem Wege leicht erklären; bezeichnend aber ist es in vielen derartigen Fällen, daß sich den Kranken die Grenze, wo der selbstthätige Betrug die krankhafte Einbildung ablöst, völlig verwischt und daß sie daher ebensoleicht zum willenlosen Werkzeug fremder Beeinflussung wie der eigenen Wahnvorstellungen werden. Eben das aber ist das eigenthümliche Kennzeichen der Hysterie, und deshalb sollten Kranke dieser Art unbedingt der ärztlichen Behandlung in einer Heilanstalt übergeben, ihre öffentliche Schaustellung aber unter allen Umständen, auch wo ein beabsichtigter Betrug nicht vorliegt, einfach verboten werden. Daß weder die Kirche, in deren Interesse ein solches Verbot in erster Linie gelegen wäre, noch die Gerichte imstande sind, dem Uebel wirksam vorzubeugen, das durch solche Schaustellung und ihre nur zu leicht ansteckende Wirkung in den Gemüthern angerichtet wird und nicht selten auch zur materiellen Schädigung leichtgläubiger Personen führt, das hat der vorliegende Fall recht deutlich bewiesen. Um so dringender ist eine gesetzliche Bestimmung in dieser Richtung geboten. Vor allem aber ist es eine vernünftige, naturgemäße Erziehung der Jugend, durch welche dieser Krankheit und mit ihr einer unerschöpflichen Quelle des Aberglaubens der Boden, wenigstens für die Zukunft, entzogen werden kann. C. Hecker.     


Die masurischen Seen.

Von Richard Skowronnek.0 Mit Zeichnungen von Adolf Hering.

Im südöstlichsten Winkel unserer Ostmark, hart an der russischen Grenze, zieht sich ein Landstrich hin, der nach Bodenbeschaffenheit und Art der Bewohner scharf von seiner Nachbarschaft geschieden ist, das Ländchen der Masuren. Es umfaßt sieben Kreise des Regierungsbezirkes Gumbinnen: Angerburg, Johannisburg, Sensburg, Lötzen, Lyck, Oletzko, Ortelsburg und einen Theil des Kreises Goldap. Als seine Hauptstadt gilt das an dem See und Flusse gleichen Namens gelegene Städtchen Lyck. Der uralisch-baltische Höhenzug mit seinen ausgedehnten Wäldern, den weiten Strecken Heideland giebt ihm sein eigenartiges Gepräge: herb wie der Duft des Kiefernwaldes im Sonnenschein und schwermüthig wie Bruchland im Oktobernebel. Den eigentlich bestimmenden Zug in seinem Landschaftsbild bringen jedoch die zahlreiche Seen und Gewässer aller Art hervor, die fast jede tiefer gelegene Bodensenkung ausfüllen.

Von dem mehr als eine Quadratmeile großen Mauersee, der mit seinen kreuzförmigen Verzweigungen von der Stadt Angerburg bis Lötzen reicht und dort durch einen Kanal mit dem kaum minder umfangreichen Löwentinsee verbunden ist, zieht sich südwärts in fast ununterbrochener Folge eine Kette größerer und kleinerer Gewässer hin bis zu dem gewaltigen Spirdingsee, der mit seinen weitauslaufenden Buchten mehr als zwei Quadratmeilen bedeckt. Durch den masurischen Kanal ist unter diesen Gewässern, die nordwärts mit dem Pregel, südwärts durch den Abfluß des Spirdingsees mit den Weichselzuflüssen in Verbindung stehen, eine verkehrsreiche Wasserstraße geschaffen, die hauptsächlich zur Beförderung der aus den masurischen Forsten stammenden Flöße dient. Ostwärts zweigt sich hiervon ein anderes, in breitem Zuge verlaufendes Seenband ab, das seinen Abschluß in dem theilweise bereits auf russisches Gebiet hinüberreichenden Raigrodsee findet.

Eine Fülle von Naturschönheiten ist über dieses wald- und wasserreiche Stückchen Erde verstreut, Schönheiten, an denen der Einheimische achtlos vorübergeht und von denen keines der gangbaren Reisehandbücher erzählt. Und doch dürften sie sich getrost so manchem an die Seite stellen, was „draußen im Reiche“ von naturschwärmenden Touristen bestaunt und gepriesen wird.[1]

  1. In neuerer Zeit ist eine lebhafte Bewegung im Gange, Masuren auch dem Touristenverkehr zu erschließen. Es hat sich eine „Gesellschaft zur Erleichterung des Personenverkehrs auf den masurischen Seen“ gebildet, die zunächst ein kurzes Schriftchen erscheinen ließ, „Wie bereist man das masurische Seengebiet“ (gedruckt bei J. van Riesen in Lötzen), und mit deren Unterstützung A. Hensel kürzlich einen ausführlicheren Wegweiser durch das Seengebiet von Masuren und seine Nachbarschaft veröffentlicht hat (Königsberg, Hartungsche Verlagsdruckerei). Auch Dr. K. E. Schmidt in Lötzen hat unter dem Titel „Von Masurens Seen“ historische und landschaftliche Schilderungen aus dieser Gegend herausgegeben (Wien, Hartleben). Den beidem letztgenannten Schriften sind auch zweckmäßige Spezialkarten beigefügt.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_495.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2024)