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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

geh’ nicht, Sennerin! Und wenn einer mit zehn Ross’ käm’ und thät’ mich fortziehen wollen ... ich bleib’, ich bleib’!“

Sie trat auf ihn zu, riß ihm die Geißel weg und hob sie zum Schlag. „Willst geh’n oder nicht?“

„Hau’ nur zu ... ich wehr’ mich nicht! Aber bleiben thu’ ich!“

Klatschend flog ihm die Schnur der Geißel ins Gesicht und zeichnete einen blaurothen Striemen über Stirn und Wange. Jörgi rührte sich nicht; aber das Wasser lief ihm aus den starren Augen.

Wieder fragte sie: „Willst geh’n oder nicht?“

Er biß die Lippen übereinander und schüttelte den Kopf.

Sie wollte aufs neue schlagen, allein ein Gefühl des Ekels überkam sie ... und sie wußte nicht, war es Ekel vor sich selbst oder Ekel vor diesem menschenähnlichen Thier. Sie warf ihm die Geißel vor die Füße und ging der Hütte zu.

Keuchend hob Jörgi die Geißel auf, ließ die Schnur durch die Finger gleiten und machte sich wieder an seine Arbeit. –

Gegen Abend wurde es lebendig auf der Alm. Eine Schar junger Burschen kam, mit ihnen ein Sackpfeifer und ein Zitherschläger. Die Spielleute begannen eine lustige Weise, während die Burschen singend und jauchzend den Holzstoß zum Sonnwendfeuer rüsteten. Dann wurde die Bahn für das Scheibenspiel geebnet. Auf dem untersten Hang des Almfeldes baute sich eine grasige Kuppe über den steil zum See abfallenden Bergwald hinaus; man mußte schwindelfreie Augen haben, um von dieser Stelle furchtlos hinunterzublicken in die gähnende Tiefe, in welcher der See gebettet lag. Ein geflochtener Zaun umschloß den Platz, um das grasende Vieh von der gefährlichen Stelle zurückzuhalten. Diesen Zaun entfernten jetzt die Burschen, und mit Holzpflöcken stampften und schlugen sie den sacht ansteigenden Grasboden der Kuppe glatt, um eine ebene Bahn für die rollenden Scheiben zu gewinnen; das machte ihnen nur wenig Mühe, denn der Boden war noch leidlich glatt vom vergangenen Sommer her. Es wurde ja auf dieser Kuppe, welche der „Feuerpalfen“[1] hieß, seit grauen Zeiten, Jahr um Jahr, das Sonnwendspiel gehalten.

Lange biegsame Stangen wurden zugerichtet, eine mächtige Fichte wurde gefällt, der Stamm mit der Säge in Scheiben zerschnitten, und aus jeder dieser Scheiben das Mark herausgebohrt.

Der Abend dämmerte schon, als alle Vorbereitungen getroffen waren. Der Gäste wurden es immer mehr – ein Bursch um den anderen kam aus dem Thal emporgestiegen, mit hellem Jauchzer sich ankündend; von allen Almen her, oft viele Stunde weit, kamen die Sennerinnen, und jede brachte ein mit geweihtem Wasser besprengtes Scheit zum Sonnwendfeuer und eine lange Kienfackel, um die heilige Flamme heimzutragen durch die finstere Nacht.

Als am dunklen Himmel das erste Sternlein blinkte, wurde Feuer an den Stoß gelegt. Alle standen schweigend im Kreis umher, um acht zu haben, wie hoch die erste Flamme emporzüngle: denn so hoch würde der Flachs gerathen in diesem Jahr.

Mit Knistern und Prasseln wuchs das Feuer, und es währte nicht lange, da loderte es baumhoch empor mit rauschenden Flammen, die sich durcheinander flochten und ringelten wie hundert glühende Schlangen. Und da begannen auch in der finsteren Ferne, auf allen sichtbaren Gebirgsstöcken, auf den Lattenbergen und dem Watzmann, auf dem Göhl und Untersberg, die Sonnwendfeuer aufzuleuchten, daß es anzusehen war, als hätte der Himmel seine Sterne wie feurige Flocken heruntergeschüttelt auf die Berge.

Die Pfeife klang, die Zither fiel ein, jeder Bursch faßte sein Mädchen um die Mitte, und in geschlossenem Reigen wirbelten die jauchzenden Paare rings um das Feuer, bis der Holzstoß zerfiel und die Flammen zu schrumpfen begannen. Da stellten sich die Paare ist langer Reihe auf.

„Springet, Dirnen und Buben,“ rief der Zitherschläger, „daß Euch beim Traidschneiden das Kreuz nicht weh thut!“

Und der Bursch, der zuvorderst in der Reihe stand, warf seinen Hut in die Luft und sang dazu:

0„Unterm Kopf, überm Kopf
Thu’ ich mein Hütl schwingen!
0Dirndl, wie lieber mich hast,
So höher mußt springen.“

Lachend reichte ihm sein Mädchen die Hand, in gleichem Schritt begann das Paar den immer flinker werdenden Anlauf ... „Hupp auf!“ schrien alle anderen ... und in hohem Schwung flog das Paar über die breite Gluth hinweg und durch die züngelnden Flammen. Jauchzender Zuruf folgte dem glücklichen Sprung, und der Bursch halste das Mädchen. „Schatzl! Wir haben uns ein glückselig Jahr erschwungen!“

Paar um Paar sprang über das Feuer; mißlang der Sprung, dann regnete es spottende Scherze über die Ungeschickten, die mit verdrossenen Gesichtern hinter die Reihe zurücktraten, um ihr Glück ein zweites Mal zu versuchen.

Zenza stand mit verschränkten Armen unter der Hüttenthür und schaute finsteren Blickes dem fröhlichen Treiben zu.

Da trat ein Bursch zu ihr. „Zenza, willst Dich nicht schwingen mit mir?“

Sie blickte auf, es war Ulei, der Bildschnitzer. Sie gab ihm keine Autwort, nicht einmal den Kopf schüttelte sie; schweigend trat sie aus der Thür, wendete dem Burschen den Rücken und wanderte mit langsamen Schritten in die Nacht hinaus.

Das letzte Paar war glücklich über das Feuer gesprungen, und nun begann das Scheibenspiel. Ein Bursch um den anderen faßte mit langer Stange eine der durchlöcherten Scheiben auf und hielt sie ins Feuer, bis sie zu glühen begann; dann sagte er den altherkömmlichen Scheibenspruch, setzte das glühende Rad auf die ebene Bahn und begann gegen den Feuerpalfen zu laufen; nahe vor dem Abgrund ließ er die rollende Scheibe mit kräftigem Schwung von der Stange gleiten, daß sie funkensprühend hinausflog in die Luft und verglimmend in die Tiefe sank. Auch hier gab es Lob und Spott, je nachdem der Wurf gelang. Unter den Scheiben war eine, mit welcher keinem Burschen der Schwung gelingen wollte, sie war zu plump und schwer gerathen; bald wollte sie nicht richtig glühen, bald brach unter ihrem Gewicht die Stange, bald wieder rollte sie seitwärts davon, noch ehe der Feuerpalfen erreicht war. Am Ende ließ man sie liegen und hielt sich an die leichteren Scheiben, die sich flink und lustig treiben ließen. Wohl eine Stunde währte das fröhliche Spiel, das sich wundersam ausnahm in der finsteren Nacht.[2]

Da kam noch ein Gast zum Sonnwendfeuer – Haymo, der Klosterjäger.

„Schenket mir auch eine Scheibe,“ sagte er zu den Burschen, die ihn mit herzlichem Willkomm’ empfingen.

„Schad’, Jäger, Du bist zu spät gekommen. Die Scheiben sind all’ schon vertrieben.“

„Dort liegt ja noch eine,“ sagte Haymo.

„Die will sich nicht treiben lassen.“

„Sie muß,“ murmelte der Jäger, packte den rußigen Klotz und warf ihn ins Feuer. Als die Scheibe um und um glühte, hob er sie mit der Stange aus den Flammen und sagte mit bebender Stimme den Spruch:

„Eine Scheiben
Will ich treiben
Meiner Herzallerliebsten zu Ehren!
Will’s einer wehren?“

Mit jähem Ruck setzte er den brennenden Klotz auf die verkohlte Grasbahn, fing zu laufen an und wirbelte die Scheibe, daß die Funken emporstoben wie aus einer Esse. Dicht vor dem Absturz hielt er inne. „Gittli, ich thu’ Dich grüßen,“ klang es von seinen Lippen mit zitterndem Ruf in die Nacht hinaus ... und von mächtigem Schwung getrieben, surrte das feurige Rad in weitem Bogen über den Abgrund.

Alles rannte zum Feuerpalfen. „Schauet, schauet,“ riefen die Dirnen, „so hat noch keiner eine Scheib’ getrieben.“

Inmitten der Lärmenden stand Haymo schweigend und blickte mit feuchten Augen seiner Scheibe nach, die einer fallenden Sonne gleich in die Tiefe sank und immer, immer noch keinen Grund erreichte.

„Schauet, schauet,“ rief es rings um ihn her, „sie fallt hinunter bis in den See!“

Tiefer und tiefer sank das kreisende Feuerrad, es wurde

  1. Palfen = Felsen.
  2. Das „Scheibentreiben“, welches in früheren Jahrhunderten fast im ganzen Gebirge als beilige Sitte gepflogen wurde, hat sich in Garmisch bis in die Gegenwart erhalten. Die glühende, in den finsteren Abgrund versinkende Scheibe ist als Sinnbild des niedergehenden Sonnenrades zu deuten.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 503. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_503.jpg&oldid=- (Version vom 28.3.2021)