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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Gelt, Herr? Das greift einem ans Herz!“ murmelte Wolfrat. „Ich bin selbigsmal gestanden, als wär’ in mir drin alles ein Eisbrocken worden! Und wie mich das Grausen wieder aufschauen laßt ... von dem armen Weiberleut und dem Büberl hat kein Aug’ mehr was zu sehen gekriegt . . . aber auf einem spießigen Balken, der aus dem Gluthhaufen herausgestanden ist, hab’ ich das Kindl hängen sehen, das sich am Wickel verfangen hat. Da hab’ ich kein’ Glut und kein Feuer gescheut und bin mitten hineingesprungen und hab’ das weinende Würml gepackt ... und das Glück hat’s wollen: ich bin herausgekommen. Aber da springt schon der Klees auf mich zu. ‚Gieb her‘, schreit er, ‚hörst ja, das Kindl weint nach seiner Mutter!‘ Er will mir’s wegreißen, ich aber hab’ ihm mit der Faust eins übers Gesicht gewischt, daß er hingeschlagen ist wie ein Ochs. Derweil hat’s schon geschienen, als thäten die hörigen Leut’ Herr werden über die Unsrigen ... der Klees ist wieder aufgesprungen und auf mich zu mit der blanken Wehr ... und wie’s der Zufall will, springt grad ein scheues Roß gegen mich her ... ich erwisch’ es bei der Mähn’, komm’ in einem Schwung hinauf ... und zum Thor geht’s hinaus in einem Sauser, gleich über zwanzig Köpf’ weg!“

„Kein Zweifel mehr!“ rief Pater Desertus mit bebenden Lippen; und seine flammende Erregung, in welcher Schmerz mit Freude kämpfte, mühsam beherrschend, stammelte er in lateinischer Sprache: „Das war mein Weib ... das ist mein Kind! Mein Kind!“ Die hellen Thränen rannen ihm über die Wangen in den Bart.

Erschrocken schaute der Sudmann zu ihm auf und warf dann einen fragenden Blick auf den Propst.

„Sprich weiter, Wolfrat!“ sagte Herr Heinrich.

„Ich bin auf dem scheuen Roß gehangen wie der Frosch auf dem Mühlenrad und hab’ nur allweil das Kindl an mich hingedrückt . . . und das Roß ist fortgesaust, fort und fort, bis weit hinter mir das brennende Schloß untergesunken ist in der finstern Nacht. Wie nachher der Tag gegrauet hat, sind dem Roß die Kräfte ausgegangen. Eine Weil’ ist es stehen geblieben und hat den Grind hängen lassen, dann ist es wieder fortgetrabt, Schrittl um Schrittl. Das Kind hat geschlafen, und ich hab’s auf dem Arm gehalten und hab’ nicht gewußt, was ich anfangen soll. Ich hab’ die Gegend nicht gekannt, und in ein Dorf hab’ ich mich nicht hineingetraut – ich hab’ gemeint, es müßt’ alle Welt schon wissen, was in der Nacht geschehen ist. Wenn ich gleich mit keinem Finger dazu geholfen hab’ ... dabei gewesen bin ich halt doch! So bin ich allweil zu und zu geritten, weil ich nichts anderes gedacht habe als grad das einzig: schau nur, daß du weit, weit fort kommst von dem Fleck! Auf Mittag hab’ ich einen Einödhof gefunden mitten drin im Holz und einer Dirn’ ein Reindl Milch abgebettelt für das Kind. Und so bin ich wieder fortgeritten, allweil fort, bis ich auf die Nacht zu einem Wasser gekommen bin und bald darauf in einen Markt. Da hab’ ich mich ausgekannt: das Wasser ist die Vils gewesen, und der Markt hat Velden geheißen . . . und von da hab’ ich keine drei Stund’ mehr in mein Heimathl gehabt. Wie hätt’ mir denn jetzt noch ein anderer Weg einfallen sollen! Ich bin halt geritten und geritten, bis ich daheim war. Meiner Mutter hab’ ich das Kindl in’ Arm gelegt . . . aber wie ich dazu gekommen bin, das hab’ ich verhehlt, denn ich hab’ mich gescheut vor Mutter und Vaters Aug’ . . . dabei gewesen bin ich halt doch!“

Wolfrat vermochte kaum mehr zu sprechen, seine Stimme zitterte vor Schwäche.

„Die Nacht darauf bin ich wieder fort. Aber das Kriegshandwerk hab’ ich satt gehabt bis an den Hals. In Landshut hab’ ich mich eingedingt als Flößer. Es hat lang gedauert, bis ich die schieche Sach’ in mir hab’ geschweigen können. Ich hab’ mir freilich allweil fürgesagt, daß ich ein Unrecht thue wenn ich das Kindl um sein Recht und seinen Namen bring’. Aber ich hab’ mir halt nicht getraut, daß ich umfrag’ und red’ ... dabei gewesen bin ich halt doch ... da hätt’s mir leicht an den Kragen gehen können, wenn ich mich verschnappt hätt’ . . . und sein bissel Leben hat halt doch ein jeder gern! Und wie ich wieder einmal heimgekommen bin nach Dorfen und gesehen hab’, daß mein Mutterl mit der ganzen Seel’ an dem lieben Kindl hängt, da hab’ ich erst recht nimmer reden können und hab’ mir gedacht: laß halt alles gehn, wie’s geht ... in Gottesnam’!“

„Und niemals,“ fragte Pater Desertus mit schwankender Stimme, „niemals wieder hast Du von jener furchtbaren Nacht gehört? Nie den Namen jener Burg erfahren?“

Wolfrat schüttelte den Kopf.

„Aber es muß doch ein Bild jener Burg in Deiner Erinnerung haften?“

Wolfrat schien sich zu besinnen. „Mein, es hat halt ausgeschaut, wie es ausschaut in einer Burg. Thürm’ und Mauern, ein weiter Hof und ein großmächtiges Haus,“ sagte er mit matter, kaum noch verständlicher Stimme. „Aber . . . wohl wohl, Herr ... auf eins besinn’ ich mich noch. Ueber dem Thor und über der Thür in den Thurm hinein hab’ ich im taglichten Feuerschein ein gemaltes Wappen gesehen!“

„Sprich, Wolfrat, sprich!“ klang es mit erstickten Lauten von den Lippen des Paters.

Wolfrat bewegte lallend die Zunge; man verstand nicht mehr, was er sprach; die Erregung hatte seine schwachen Kräfte völlig erschöpft; er schien einer Ohnmacht nahe.

„Sprich, Wolfrat, sprich!“ Und Pater Desertus warf sich vor dem Lager auf die Knie und neigte das Ohr dicht über die Lippen des Sudmanns.

Mit erlöschenden Sinnen rang Wolfrat nach Sprache. „Es war ... ein weißer Falk ... in blauem Feld ..."

„Das Wappen meines Hauses!“ schrie Pater Desertus auf. Sich erhebend, schlug er die Hände vor das Antlitz und wankte hinaus, als erdrücke ihn der enge Raum; draußen ließ er sich schluchzend niedersinken auf die sonnige Bank.

Herr Heinrich eilte ihm nach. Im gleichen Augenblick legte ein Boot mit zwei Schiffern und einem Reisigen am Ufer an.

„Dietwald, ermanne Dich!“ flüsterte der Propst. „Es kommen Leute!“ Er ging dem fremden Kriegsknecht entgegen. „Wen suchst Du?“

„Herrn Heinrich von Inzing, den Propst!“

„Du bist an rechter Stelle. Wer bist Du?“

„Ein Salzburger Fronbot’. Die Oberin der Domfrauen schickt Euch diese Botschaft.“ Er reichte dem Propst ein versiegeltes Pergament.

Herr Heinrich las; er erschrak nicht; nur ein Lächeln glitt über seine Lippen. „Du kannst heimkehren!“ sagte er zu dem Boten. „Man soll Dir im Kloster den Botenlohn reichen und Dich köstigen.“ Der Knecht ging zum Ufer zurück. Herr Heinrich wartete, bis das Boot abgestoßen war, dann wandte er sich zu Pater Desertus.

„Willst Du lesen, Dietwald? Eine Botschaft von Deinem Kinde!“

Mit hastigen Händen griff der Pater zu und entfaltete das Pergament. Er erblaßte. „Mein Kind ... aus dem Kloster entflohen?“ „Entflohen? Weshalb das hohe Wort?“ meinte Herr Heinrich lächelnd. „Sag’ lieber: davongelaufen.“

Pater Desertus faßte die Hand des Propstes. „Herr! Ich bitt’ Euch! Lasset uns gleich zurückkehren! Im Seedorf stehen unsere Pferde. Wir wollen nach Salzburg reiten!“

„Nach Salzburg? Nein, Dietwald, ich weiß einen näheren Weg, um Dein Kind zu finden. Wir wollen hinaufsteigen in die Röth’!“

Desertus erschrak. „So meint Ihr ...? Nein, nein, es ist unmöglich! In dieser einen Nacht sollte das zarte Kind einen Weg bezwungen haben, der die Kräfte eines rüstigen Mannes erschöpfen würde?“

„Die Liebe vermag viel!“ lächelte Herr Heinrich. „Komm, Dietwald!“

In bebender Erregung, aber schweigend, folgte Desertus dem Propst an das Ufer. Ein Knecht holte zwei Bergstöcke, der Einbaum wurde ins Wasser geschoben, rasch war die schmale Wasserzunge übersetzt, und die beiden stiegen empor durch den sonnigen Bergwald.

Mit ungeduldigen Schritten eilte Pater Desertus voran.

Herr Heinrich aber rief ihm lachend zu: „Dietwald, willst Du nicht hinter mir gehen? Weißt Du, ich möchte doch mit ganzer Lunge droben ankommen!“


27.

Am Morgen, noch vor Tag, hatte Haymo die Jagdhütte verlassen, um die Grenzen seines Bergreviers zu umwandern. Nahe den Funtensee-Tauern traf er mit dem Jäger Renot zusammen, der am Ufer des Grünsees hauste. Unter den steilen Wänden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 538. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_538.jpg&oldid=- (Version vom 6.11.2022)