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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


Sechs lange, bange Stunden währte der Weg, auf dem er kreuz und quer sein ganzes Revier durchwanderte. Er suchte die steilsten Gehänge und die gefährlichsten Pfade, um durch die Erschöpfung des Körpers seine Gedanken und sein Herz zu betäuben.

Als er zu den Hütten kam, lag über den Bergen schon die tiefe sternenhelle Nacht. Aus der halboffenen Thür des Herrenhauses leuchtete ein matter Feuerschein. Haymo wollte zur Jägerhütte gehen; da rief Herr Heinrich ihn an; der Propst und Pater Desertus saßen vor dem Herrenhaus auf der Bank. Haymo spähte und lauschte, aber es war von Gittti weder etwas zu sehen noch zu hören.

„Nun? Wie ist der Pirschgang ausgefallen?“ fragte Herr Heinrich mit gemächlichen Worten. „Hast Du Wild getroffen?“

„Wohl wohl, Herr,“ erwiderte Haymo, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend, „unter den Wänden ist eine Steingeiß mit ihrem Kitz gestanden, Gemsen hab’ ich zweiunddreißig gezählt, und auf den Kreuzwaldlahner ist ein guter Hirsch ausgezogen, dem das Geweih bald reifen wird; die Kolben zeigen schon die vierte Kron’.“

„Brav, Haymo, den wollen wir uns holen in der Brunst . . .“ Herr Heinrich stockte. „In der Brunst? Ach so ... ich vergesse ja! Die gute Brunst beginnt um den St. Pelagitag . . . und eine Woche früher fällt schon der Michelstag. Schade! Schade!“

Haymo erzitterte, als hätte er einen Schlag vor die Brust erhalten.

„Aber jetzt geh’, Haymo; koch’ Dir Dein Nachtmahl und dann leg’ Dich schlafen! Du mußt morgen wieder zeitig auf den Beinen sein.“

Ein paar heisere Laute würgte der Jäger zum Gruß heraus und wollte seiner Hütte zugehen.

„Nicht dort ...“ rief ihm Herr Heinrich nach, „in Deiner Hütte schläft das Mädchen, Du mußt Dich für heute mit dem Heuboden begnügen; drinnen auf dem Herde findest Du, was für Deine Mahlzeit nöthig ist.“

Haymo trat in die Herrenhütte, schürte das erlöschende Feuer und begann seinen Imbiß zu bereiten. Er that es nicht, weil ihn etwa hungerte ... er that es nur, weil Herr Heinrich gesagt hatte: koch’ Dir Dein Nachtmahl! Noch eh’ er damit zu Ende war, kamen die Herren in die Hütte. Der Probst ging in das Stübchen, Pater Desertus blieb unter der Thür mit verschränkten Armen stehen und verwandte keinen Blick seiner stillen, warm leuchtenden Augen von Haymo. Dem Jäger wurde unter diesem forschenden Blick unheimlich schwül zu Muth, der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn – aber er that, als sehe er den Pater nicht, hockte sich mit der Pfanne in einen Winkel und würgte Bissen um Bissen hinunter. Das Mittagsmahl hatte ihm besser geschmeckt! Mit einem tiefen Athemzug sprang er auf; als er über die Leiter emporsteigen wollte, trat Pater Desertus auf ihn zu, streckte ihm die Hand hin und sagte lächelnd:

„Gute Nacht, Haymo!“

„Gut’ Nacht, Herr!“ murmelte der Jäger, die gebotene Hand übersah er. Droben warf er sich der Länge nach über das Heu und grub das Gesicht in die Arme, um sein Schluchzen zu ersticken. Als er nach einer Weile wieder ruhig wurde, hörte er die Herren in der Küche noch miteinander reden. Dann wurde alles still.

Leise strich der Nachtwind über das Schindeldach. Haymo wachte mit klopfendem Herzen. Als er meinte, daß Mitternacht schon vorüber sei, streifte er die Schuhe von den Füßen, stieg lautlos über die Leiter hinunter und tappte sich durch die Finsterniß zur Hüttenthür.

Sie war versperrt . . . und der Schlüssel abgezogen . . .

Fast eine Stunde stand Haymo schwer athmend und zitternd auf einem Fleck. Als er sich endlich wieder zu rühren wagte und in das Heu hinaufstieg, knarrte auch noch die Leiter.

Draußen war der Mond aufgegangen; sein bleicher Schimmer quoll durch die Lücken im Dach. Haymo lag schlaflos; er hielt die Hände unter dem Nacken verschränkt und starrte mit brennenden Augen auf eine der hellen Lücken.

Als der Morgen zu grauen begann, erhob er sich und stieg in die Küche hinunter. Dabei machte er Lärm und hustete. An der Thür rüttelte er, als wüßte er noch nicht, daß sie versperrt sei.

Er trat in die Stube.

„Haymo?“ fragte Herr Heinrich in der Schlafkammer.

„Wohl wohl, Herr! Ich kann nicht hinaus. Es muß einer die Thür versperrt haben!“

„Komm nur her zu mir!“ Herr Heinrich griff unter das Lederpolster und zog den Schlüssel hervor. „Da nimm! und kannst auch gleich am Fenster den Laden aufstoßen. Ich mein’, der Morgen wird schön.“

Haymo that, wie ihm geheißen war. Nun trat er seufzend ins Freie. Das graue Licht des Morgens kämpfte mit dem Mondschein. Still und dunkel lag die Jägerhütte. Als Haymo ihr entgegenschritt, schlug ihm das Herz bis an den Hals herauf. Trotz der Dämmerung ersah er gleich mit seinem Falkenaug’, daß am Fenster der Laden offen stand. Aber ein offenes Fenster war ja auch hinter ihm.

„Wart’ nur,“ murmelte er und raffte ein Steinchen von der Erde, „so gescheit wie die Herrenleut’ bin ich auch noch!“

Als er die Hütte erreichte, warf er, fast ohne die Arme zu rühren, das Steinchen ins Fenster. Ein leiser Schrei klang aus der Stube. Haymo lehnte das Griesbeil an die Blockwand und bückte sich, als müßte er die Schuhriemen fester knüpfen.

„Gittli!“ flüsterte er.

„Haymoli!“ klang es in der Stube mit zitterndem Laut, und gleich darauf erschien ein weißes Gesichtchen am Fenstergitter.

„So, jetzt kann er meinetwegen zuschauen, wie er mag!“ Mit einem flinken Satz sprang Haymo auf das Fenster zu. Das war nun freilich ein beschwerlicher Kuß, denn die Lücken des Gitters waren eng, die Stäbe dick . . . aber ein Kuß war es doch.

„Laß Dich nur nichts verdrießen! Thu’ nur festhalten, Schatzl, thu’ nur festhalten, gelt?“

„Wie ein Astl am Baum!“

Und wieder fanden sich ihre Lippen.

„Behüt’ Dich Gott, Schatzl!“

„Behüt’ Dich Gott tausendmal, mein lieber, lieber Bub’!“

Haymo griff nach dem Griesbeil und taumelte davon, das Herz zum Springen voll von Leid und Freude.

Hinter dem offenen Fenster des Herrenhauses standen der Propst und Pater Desertus.

„Es eilt, Dietwald, es eilt!“ sagte Herr Heinrich lächelnd.

„Das merk’ ich, Herr! Wenn ich nicht das Elend meines Kindes will, dann muß ich flink die Hände rühren zu seinem Glück!“

Haymo war in der Dämmerung schon entschwunden. Er kam an diesem Morgen mit seinem Hegergang so rasch zu Ende wie noch nie. Als die Sonne über die Berge emportauchte, war er schon wieder auf dem Heimweg. Von der Kreuzhöhe sah er die Hütten; sie waren geschlossen. Spähend blickte er über die Thäler, welche der Pfad durchschnitt. Nahe dem Bergwald sah er die Herren mit Gittli gegen die Almen wandern; sie verschwanden unter den Bäumen und kamen auf dem Almfeld wieder zum Vorschein. Aus der Sennhütte lief ihnen eine Dirn’ entgegen. Das mußte wohl die Zenza sein! Eine Weile standen die viere beisammen. Dann gingen sie der Hütte zu . . . und trotz der weiten Ferne meinte Haymo zu erkennen, daß Gittli von den Herren gestützt und geführt wurde.

„O Du lieber Herrgott!“ stammelte er, „sie wird doch nicht letz geworden sein!“ Und geraden Weges, über Felsen und Büsche, stürmte er hinunter ins Thal.

Als er nach einer Stunde die Alm erreichte, trat ihm unter der Hüttenthür eine fremde Dirn’ mit verweinten Augen entgegen.

Er starrte sie an. „Sind die Herrenleut’ schon wieder fort?“

„Schon lang wieder.“

„Wo ist denn die Sennerin?“

„Die bin ja ich! Oder weißt noch nicht, was geschehen ist?“ Weinend erzählte sie.

Haymo, dem die Knie brachen, sank erblassend auf die Bank.

„Gestern um Mittag hat man das arme Leut gefunden. Und der Jörgi geht auch ab. Seit der Früh schon sucht man nach ihm.“

„Wo denn, wo?“ stotterte Haymo.

„Beim Wildbach drunten.“

Haymo sprang auf; Zähren rannen über seine Wangen, während er davonstürzte, um sich den Suchenden anzuschließen.

(Schluß folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 544. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_544.jpg&oldid=- (Version vom 9.11.2022)