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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

die Gegenrevolution des Ruhmes gehabt, werden wir die Revolution des öffentlichen Gewissens, die Revolution der Verachtung haben.“

Wenige Wochen später, am 24. Februar 1848 um die Mittagsstunde, bestieg Louis Philipp am Concordienplatz, der Stelle gegenüber, wo sein Vater Philip Egalité unter der Guillotine geendet hatte, den schlichten Einspänner, der ihn aus Paris führte, und als entthronter Herrscher hat der Greis seine letzten Tage in der Fremde verlebt. Die Juli-Dynastie ist in der That einer Revolution der Verachtung zum Opfer gefallen, das Schuldbuch der Familie Orleans war vollgeschrieben bis zum letzten Blatt.




Der Klosterjäger.

Ein Hochlandsroman aus dem 14. Jahrhundert von Ludwig Ganghofer.
(Schluß.)


29.

Es war Herbst geworden. Von den Buchen fiel bereits das welke Laub, und in den kühlen Nächten begannen vereinzelt schon die Hirsche zu röhren.

Wieder erwachte ein Morgen über dem See. Ein grauer, schwerer Nebel lagerte auf dem Wasser und fluthete um die Bartholomäer Klause. Man konnte kaum auf zwanzig Schritte sehen. Die Thür des Kirchleins war offen, und drinnen, im Dämmerlicht der schmalen Halle, stand Pater Eusebius neben dem Altar. Auf den Stufen kniete Wolfrat. Als er sich erhob, schlug er das Kreuz mit der linken Hand; der rechte Arm, den der Aermel umhüllte wie einen dürren Stecken, hing in einer ledernlen Schlinge.

Schweigend traten sie ins Freie und gingen zum Ufer.

„Schau, Wolfrat, da wartet schon das Schiffl,“ sagte Pater Eusebius und legte seine Hand auf die Schulter des Sudmanns. „Jetzt schau’ halt, daß Du gut heimkommst. Und gelt ... sei gescheit und mach’ keine Streich’ mehr!“

Wolfrat schüttelte den Kopf und griff nach der Hand des Paters. Die Augen gingen ihm über. „Vergelt’s Gott für alles, vergelt’s Gott tausendmal ...“ So stammelte er immer wieder und drückte und quetschte dabei die Hand des Paters, als wär’ sie eine Nuß, die er knacken müsse.

„Ja hörst nicht auf!“ stöhnte Eusebius und befreite seine roth überlaufenen Finger. „Der Kerl druckt noch mit einer Hand wie ein anderer mit zwei. Jetzt mach’ aber, daß Du weiter kommst . . . oder hast vielleicht an den fünf Monaten daherin nicht genug gehabt? Geh’, Wolfrat, geh’! Wenn der Schnee fallt, komm’ ich auch hinaus, und dann schau’ ich schon einmal nach, wie’s geht bei Dir daheim!“ Er schob den Sudmann in das Schiff, in welchem ein Knecht schon das Ruder bereit hielt.

Wolfrat konnte nicht sprechen, er nickte nur immer und winkte mit der Hand. Ein Ruck des Schiffes warf ihn auf den Sitz nieder. Schon nach wenigen Ruderschlägen war die Klause im Nebel verschwunden. Wolfrat trocknete die Augen und starrte mit verlorenem Blick in die grauen Schleier, die ihn umhüllten, ihn und das dunkle Los, dem er entgegenfuhr. Sein Herz dürstete nach Weib und Kind. Aber wie durfte er sich freuen, da ihm das Schwerste noch bevorstand. Mit dem lieben Herrgott war er vielleicht auf gleich gekommen; aber der Vogt hatte auch noch ein Wörtlein zu reden. Und wenn die Strafe überstanden war, wie sollte er dann schaffen für Weib und Kind mit seinem lahmen Arm? Im Sudhaus war es vorbei mit der Arbeit; da brauchte man Leute, die ihre ganzen, gesunden Glieder hatten. Mit der Bauernarbeit war es auch nichts; noch weniger mit Holzen und FlÖßen. Vielleicht aber fand sich etwas für ihn im Bergwerk? Auf einen Hauerdienst durfte er freilich nicht rechnen; aber einen guten Schlepper[1] gäbe er wohl noch ab; so schwer mochte keiner den „Hund“ laden daß er ihn nicht vom Fleck brächte. Ein Schlepper also! Er seufzte tief auf und strich mit zitternder Hand über den dürren Arm.

Da blies ihm ein frischer Wind in den Nacken; der See begann sich zu kräuseln, und der Nebel kam in Bewegung. Wie in Streit und Kampf wallten die grauen Massen durcheinander, wirbelten in drängender Eile über das Wasser, rissen entzwei, zeigten für einen Augenblick ein blaues Flecklein Himmel oder eine sonnig schimmernde Bergzinne, schlossen sich wieder und flossen wogend durcheinander. Doch immer dünner wurden die grauen Schleier, bald waren sie nur noch anzusehen wie ein bläulicher Duft, durch welchen schon der Glanz der Sonne herniederquoll auf das Wasser ... jetzt theilten sie sich mit einem klaffenden Riß über den ganzen See hin, legten sich an beiden Ufern mit fließenden Falten über den steilen Bergwald und schwammen langsam in die Höhe, spurlos zerrinnend in der leuchtenden Luft.

Ach, welch ein schöner Morgen! Mit nassen Augen blickte Wolfrat umher in all dieser farbigen Pracht des Herbstes: tiefblau der Himmel, weißglänzend alle Kalksteinfelsen der hohenl Wände, die Nadelwälder saftig grün, alles Laub so feurig gelb und roth, als stünde jede Buche und jeder Ahorn in hellen Flammen ... und über dem ganzen See, auf jeder kleinen laufenden Welle, blitzte der Widerschein der Sonne mit tausend gaukelnden Lichtern.

Der Nachen fuhr ans Land. Wolfrat stieg aus, reichte dem Knechte wortlos die Hand und ging mit raschen Schritten davon. Er athmete freier; es war etwas in seine bedrückte Seele gefallen wie ein Trost. Wo er auch ging ... überall Glanz und Licht. Die braunen Wiesen im Thau, die von Spinnwebnetzen überzogenen Stoppelfelder, die welken Hecken und Bäume, die weiße Straße, die fliegenden Fäden in der Luft ... alles schimmerte. Aus Höfen und Hütten, das weite Thal entlang, stieg in geraden Säulen der blaue Rauch. In der Ferne, zwischen schlanken Fichtenwipfeln, funkelten die vergoldeten Kreuze auf Thurm und Dach des Stiftes, und dahinter, gleich einem riesenhaften Grenzstein des Klosterlandes, erhob sich der Untersberg, über dessen höchste Felsen schon ein dünner Schnee gefallen war, so zart und duftig, als hätten die rothen Marmorstöcke weiß geblüht.

Nicht weit von der Seelände blieb Wolfrat verwundert stehen. Da war ein neues stattliches Haus aus der Erde gewachsen; es stand zwischen Bäumen und inmitten einer Wiese, die ein frisch geflochtener Hag umschloß. Der Unterstock war gemauert, der Oberstock aus zierlich gefächertem Sparrenwerk gebildet. Auf dem Giebel des weißen Schindeldaches war, die Vollendung des Hauses kündend, ein mit bunten Bändern geschmücktes Tannenbäumchen errichtet. Dem Haus zur Seite stand ein zweiter Bau, Stall und Scheune. Eine Schar von Arbeitern tummelte sich, um den Bauplatz zu räumen; aus allem Lärm klang immer wieder eine befehlende Stimme, die der Sudmann zu kennen meinte.

„Wohl wohl, da ist er schon!“ murmelte er und folgte mit sinnendem Blick dem Chorherrn, dessen schwarzes Kleid bald hier, bald dort, an allen Ecken und Enden auftauchte und wieder verschwand in treibender Geschäftigkeit.

Auf der Straße stand ein Wagen, der mit dem Abraum des Baues beladen wurde. Einen der Knechte, welche Gebälk und Steine zum Wagen trugen, fragte Wolfrat: „Wem gehört das Haus?“

„Dem Kloster. Um Sonnwend ist kein Stein noch gestanden ... und jetzt schau das Haus an!“ Der Knecht maß ihn mit zwinkernden Augen. „Wer bist denn Du?“

Wolfrat ging ohne Antwort davon; hinter seinem Rücken hörte er den Knecht noch sagen: „Meiner Seel’, das ist heilig der Sudmann, den der Bär in der Arbeit gehabt hat!“

Je näher Wolfrat dem Klosterdorf kam, desto heißer wurde ihm ums Herz. Von weitem schon suchte er den Giebel seines Lehens; er fand ihn nicht ... und ein quälendes Bangen beschlich ihn, als er neben dem Dach des Eggehofes, dort, wo sonst der moosbehangene Giebel seines Häusleins hervorgelugt hatte, einen First von frischen Brettern leuchten sah. Und immer größer wurden seine Augen, je näher er kam. War denn das noch sein

  1. Ein Bergknappe, der die geförderten Erze auf einem kleinen Wagen (Hund) hinwegschafft.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 562. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_562.jpg&oldid=- (Version vom 26.3.2021)