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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Herr Schluttemann stürmte mit puterrothem Gesicht hinaus in die Amtsstube. Er war seit Monaten zum ersten Male wieder in hellem Zorn.

Wolfrat stand mit rathlosen Augen, zitternd am ganzen Leib, mit jedem Athemzug die Farbe wechselnd.

Herr Schluttemann hielt ihm die Fäuste unter die Nase und schrie. „Gelt? Jetzt steigt Dir das Grausen auf! Wart, Du Gauner, Du schwollkopfiger, Dir will ich die Späßlein noch austreiben! Du sag’ mir noch einmal, daß Du’s gewesen bist! Gelt, jetzt verschlagt’s Dir die Red’? Wart’ nur! wart’! Den Vogt uzen! Wart’ nur!“ Herr Schluttemann stürzte auf die Wand zu und riß am Glockenstrang; ein Fronbot trat in die Stube. „Pack’ den Kerl! Marsch in den Block mit ihm! Und nur fest hinein!“

Der Fronbot faßte den Sudmann, der wie ein Trunkener zur Thür schwankte.

Herr Schluttemann that einen Pfiff, und als der Fronbot zurückkam, flüsterte er ihm zu: „Aber gieb mir ein lützel acht auf seinen lahmen Arm!“

Der Fronbot nickte und packte den Sudmann wieder beim Kragen. Ein Viertelstündlein später saß Wolfrat im Fronhof des Klosters auf der Erde, mit Arm und Füßen im Block gefesselt. Warm schien die Sonne auf ihn nieder. Einige Sperlinge kamen herbeigeflattert, guckten ihn mit schief gehaltenen Köpfchen neugierig an und flogen wieder auf das Dach. Aus dem offenen Fenster einer hochliegenden Zelle klang das sanfte Spiel einer kleinen Orgel.

Stunde um Stunde verging. Wolfrat rührte sich nicht; wohl brannten die Knöchel, und der Rücken schmerzte . . . aber er saß wie ein Träumender, und aus seinen glänzenden Augen rann Thräne um Thräne.

Als die Glocke zu Mittag läutete, kam Frater Severin mit eiller Holzbitsche und hielt sie an Wolfrats Lippen. „Da, trink!“

In langen Zügen schlürfte der Sudmann den Wein, bis ihm der Frater die Bitsche weg nahm mit den Worten: „Halt’ aus ein lützel, mußt ja nicht alles auf einmal schlucken! Sonst kriegst am End’ noch einen Rausch.“ Er stellte die Bitsche auf die Erde, stemmte die Fäuste in die Hüften und schnaufte. Wahrlich, Frater Severin hatte in all diesen Monaten sein Möglichstes gethan, um das „vollgedrückte Maß“, das ihm der Schöpfer gegeben, in unversehrter Fülle zu erhalten. Die paar Pfündlein, die er auf den Bergfahrten verloren, hatte er reichlich wieder zugesetzt.

„Viel Schweiß hat’s freilich gekostet . . . ui jei!“ sagte er, während er mit Wolfrat ein höchst einseitiges Gespräch führte, denn Frater Severin sprach allein und Wolfrat schwieg. „Aber schön ist’s da droben doch allweil gewesen! . . . Jetzt hat’s aber wohl ein End’ mit dem Bergsteigen. Weißt, jetzt muß ich Tag um Tag in der Küch’ stehen. Mit dem Frater Küchenmeister will’s gar nimmer recht vom Fleck. In der Hitz’ geht halt der Mensch auch auseinander wie der Teig in der Pfann’ . . . was kannst da machen! Er muß sich gar jämmerlich plagen mit dem Schnaufen. Und die Schneeros’ will ihm auch schon nimmer helfen! Ein Kreuz, ein rechtes Kreuz!“ Seufzend hob er die Bitsche von der Erde. „So, schluck’ nur wieder ein lützel!“

Wolfrat trank, und als die Kanne geleert war, ging Frater Severin davon. „Auf den Abend komm’ ich schon wieder!“

Aber er hatte da ein Versprechen gegeben, das er nicht halten konnte. Denn als die Sonne von den Dächern geschwunden war, als es zwischen den hohen Mauern des Fronhofes schon zu dämmern begann und Wolfrat einmal aufblickte aus seinem Träumen und Sinnen, stand Herr Heinrich vor ihm.

„Nun? Wird’s Dir schon bald zu lang?“

Wolfrat schüttelte den Kopf. „Ach, lieber, guter Herr, ich sitz’ ja gern, bis ich umfall’. Das ist ja doch gar keine Straf’!“

„So? Meinst Du?“ Herr Heinrich setzte sich auf den Block. Dann muß ich halt raiten mit Dir. Hast Du nicht Sünde mit Reue, Blut mit Blut bezahlt? Hast Du für das Leben, das Du dem Jäger nehmen wolltest, nicht Dein eigenes Leben schier hingeben müssen? Hat Dich nicht einer, der klüger ist als alle Richter der Welt, ein halb Jahr lang in den Block gelegt? Und trägst Du nicht ein Merkzeichen davon für Deine Lebzeit? Und den Steinbock, den hast Du wohl theuer genug erkauft ... mit dem letzten Blick Deines Kindes. Hätt’ ich Dich härter strafen können?“

Wolfrat ließ den Kopf sinken, und ein dumpfes Schluchzen erschütterte seine Brust.

„Schau, alles, was bös ist, straft sich selber! Noch keiner hat, wo er Böses gesät, eine volle Aehre geschnitten. Einen wachsenden Kern hat nur das Gute . . . man muß nur nicht allweil gleich die eigene Scheuer damit füllen wollen, muß auch säen können, wo andere ernten!“

„Wohl wohl, Herr, das muß heilig wahr sein. Was wär’ denn jetzt mit mir, wenn’s nicht gute Leut’ auf der Welt gäb’!“

„Ja, Wolfrat, das sag’ Dir nur allweil und allweil, dann wirst Du auch nimmer vergessen, daß man zusammenhalten muß und gut sein mit den anderen, hart nur gegen sich selber. Ich mein’, Du hast es doch gespürt, wie schwer und finster das Leben ist, und wie es über einem oft liegen kann, als wär’s ein ganzer Berg. Wenn Du so einem begegnest, der schwer zu tragen hat, dann mußt halt auch flink zuspringen . . . wirf nicht noch einen Stein drauf, sondern hilf ihm tragen! Wirst sehen, Ihr kommt dann allbeid’ zu einem sonnigen Fleckl, wo man rasten und ausschnaufen kann für den weiteren Weg.“

„Wohl wohl, Herr,“ sagte Wolfrat, mit feuchten Augen zu Herrn Heinrich aufblickend. „Aber wie soll denn ich noch was helfen können in der Welt . . . ungrade Finger greifen schlecht.“

„Nützen und zum guten helfen kann einer auch mit halben Armen. Wenn nur ein ganzes Herz dabei ist! Und schaffen wirst auch noch können für Weib und Kind. Man muß halt ein richtiges Geschäftl suchen für Dich.“

„Vergelt’s Gott, Herr, vergelt’s Gott!“ stammelte Wolfrat. „Schauet, da hab’ ich halt gemeint . . . einen Schlepper im Salzberg thät’ ich allweil noch abgeben.“

„So? Hast denn schon einmal im Berg gefördert?“

Der Sudmann schüttelte den Kopf.

„Da wird’s schwer halten! Alles will gelernt sein. Ich mein’, Du wirst im Sudhaus bleiben müssen. Mit dem Feuern und Suden hat’s wohl ein End’, aber Ausschau halten und in die Pfannen lugen und Kerbschneiden[1] wirst allweil noch können. Verdienst ja auch ein lützel mehr dabei. Der alte Rottmann[2] will sich zur Ruh’ setzen . . . was der gehabt hat, wirst ja wissen. Und jetzt komm ... steh’ auf!“

Herr Heinrich erhob sich und öffnete den Block. Wolfrat aber blieb sitzen und rührte sich nicht; er starrte nur immer den Propst an und würgte nach Worten. Herr Heinrich mußte ihn am Arm fassen und aufrichten.

„Geh’ nur, Wolfrat, geh’! Deine Seph’ wartet daheim; sie wird sich ängstigen, wenn Du so lange bleibst. Streck’ Dich . . . und geh’ heim!“

Wolfrat stand mit gebeugtem Rücken; das Sitzen im Block hatte ihn ganz steif gemacht; aber das schien er nicht zu fühlen.

„Heim? Heim?“ stotterte er mit halb erstickten Lauten. „Ja, wo bin ich denn daheim? Jetzt saget nur gleich: im Himmnel . . . und ich glaub’s auch!“

„Später einmal!“ lächelte Herr Heinrich. „Für jetzt noch in Deinem Lehen. Wo denn sonst? Nun aber geh’ und behüt’ Dich Gott!“ Er führte den Wankenden zum Thor und schob ihn auf die Straße.

Ein paar Schritte taumelte Wolfrat vorwärts. Als er hinter sich das Thor ins Schloß fallen hörte, stammelte er erschrocken: „Jesus Maria! Ich hab’ ja ganz vergessen ...“ Er stürzte zurück und schlug mit der Faust an die Bohlen. „Herr, Herr! Lasset mich doch hinein . . . lasset mich doch ein Vergelt’s Gott sagen ...“

„Dank’ einem anderen!“ klang die Stimme des Propstes, während seine Schritte sich entfernten.

Wie ein Berauschter schwankte Wolfrat auf die Straße und starrte in der Dämmerung umher, als wär’ es eine neue Welt, die ihn umgab. Da sah er die Mauer des Friedhofs und hinter ihr die steinernen Kreuze ragen. Aufschluchzend stürzte er hinzu und fand auch hier ein geschlossenes Thor. Am eisernen Gitter sank er nieder und streckte den einen Arm durch die Stäbe, als könnte er hineingreifen bis zum Grab seines Kindes.

  1. Jede Schicht eines Arbeiters wurde in zwei aneinander gelegten Stäben durch eine Kerbe verzeichnet; den einen Stab behielt der Aufseher, den anderen der Arbeiter.
  2. Aufseher.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 564. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_564.jpg&oldid=- (Version vom 29.11.2022)