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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


Auf dem Thurm begann die Glocke zu läuten. Sanft hallend schwebten ihre Klänge über das weite Thal, zu Ruh’ und Frieden mahnend. Wolfrat bekreuzte sich und murmelte, immer von Schluchzen unterbrochen, den Mariengruß. Dann sprang er auf und stürzte davon. Keuchend erreichte er sein Lehen. In der Stube brannte schon ein Licht. Unter der Thür trat ihm sein Weib entgegen.

„Seph’! Seph’!“

Mehr brachte er nicht heraus. Er wankte, und sie mußte ihn stützen. Als er in die Stube trat, streckte er die Hand, als ob er mit einem einzigen Griff alles erfassen möchte, was ihn umgab. Sie ließ ihn auf die Bank sinken, und da saßen sie nun und hielten sich wortlos umschlungen, bis von draußen ein aufgeregtes Stimmlein tönte:

„Mutterl! Mutterl! All’ beid’ sind hinein in Stall . . . ganz alleinig!“

Wie eine Hummel kam Lippele in die Stube gesurrt und stand erschrocken stille.

„Ja Bürscherl,“ fragte Wolfrat mit schwankender Stimme, „kennst mich denn nimmer?“

„Jegerl, der Vater, der Vater!“ schrie der Bub’ in heller Freude, kletterte auf Wolfrats Knie und drückte und küßte ihn, daß ihnen beiden fast der Athem verging.

„Aber Seph’! Wo ist denn die Dirn’?“

„Ich weiß nicht, was mit der sein muß! Jetzt hat man sie wieder im Klösterl gehalten. Und die ganze Zeit her ...“

Droschkenparade in Berlin.
Nach einer Zeichnung von G. Koch.


Aber Sepha konnte nicht weiter sprechen. Denn Lippele drückte ihr die Hand auf den Mund und gebot: „Sei still, Mutterl, ich muß dem Vater was zeigen!“ Und von Wolfrats Knien auf die Erde niederrutschend, schrie das Büblein mit brennendem Gesicht: „Schau’, Vater, schau’, was ich schon kann!“

Im Hui hatte der kleine Kerl das Jöpplein heruntergerissen; er warf es zu Boden, duckte sich ... und schwupp, stand er kerzengerade auf dem Kopf. Freilich plumpste er gleich wieder auf die Seite, aber das that dem Stolz keinen Eintrag, mit dem er sich erhob.

„Und das hast im Klösterl gelernt?“ staunte Wolfrat.

„Wohl wohl, aber nit von den Klosterfrauen!“

Seph’ und Wolfrat sahen sich an und mußten hellauf lachen ...

Wie lange, lange war es her, seit in dieser Stube das letzte Lachen verhallt war!


30.

Am anderen Morgen, zu früher Stunde schon, verließ Pater Desertus das Stift und ging mit eilenden Schritten dem Klösterlein der frommen Schwestern zu.

Einige Stunden später wanderte Herr Heinrich nach dem See. Als er am Eggehof vorüber kam, sah er beim Hag, der das Gehöft vom Polzerlehen trennte, den Eggebauer mit Wolfrat beisammenstehen; der Bauer ließ den Kopf hängen, Wolfrat aber hatte ihm den Einarm auf die Schulter gelegt und schien dem Bekümmerten mit herzlichen Worten zuzusprechen.

Mit sinnendem Lächeln schritt Herr Heinrich dahin unter dem welkenden Laubdach der die Straße geleitenden Bäume. „Wieder einer, der im Schatten die Sonne fand! Freilich, nur einer! Aber laß ein einzig’ Tröpflein in den See fallen, es zieht doch immer seine Wellen und rühret hundert andere!“

Nach einer Stunde erreichte Herr Heinrich die Seelände. Die beiden Fischerknechte, welche mit dem Spannen der feuchten Netze beschäftigt waren, zogen die Kappen und traten ihm entgegen.

„Habt Ihr den Jäger nicht herkommen sehen über den Steig?“

„Den Haymo? Nein, Herr!“

„Dann habet eine Weil acht, er muß wohl kommen! Doch braucht Ihr ihm nicht zu sagen, daß ich nach ihm fragte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 565. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_565.jpg&oldid=- (Version vom 29.11.2022)