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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

erworbenen Erfahrungen zusammengestellt werden, so müssen über alle Kranke, welche nicht völlig geheilt das Hospital verließen (und die Zahl dieser Individuen ist in jedem Spital sehr groß) Nachrichten eingezogen werden, wie der schließliche Verlauf der Krankheit war, ob die betreffenden Individuen geheilt sind, vollkommen oder mit Zurückbleiben von Funktionsstörungen, ob und woran sie gestorben sind, wie lange der Verlauf der ganzen Krankheit dauerte u. s. w. Kann man das schließliche Resultat z. B. der Behandlung einer chronischen Hüftgelenksentzündung nicht angeben, so bleiben die errungenen Erfahrungen trotz der genauesten Krankengeschichte, sehr unvollkommen, ja ebenso lückenhaft, als wenn man darüber nur in Büchern gelesen hätte.“

Von diesen Grundsätzen getragen sind Billroths ausführliche Berichte, die unter dem Titel „Gesammtbericht über die chirurgischen Kliniken in Zürich und Wien 1860 bis 1876“ erschienen, sowie die auf seine Anregung entstandene ausführliche und wichtige Schrift seines Schülers Winiwarter, jetzt Professor der Chirurgie in Lüttich, über die Statistik der Krebse.

Was Billroths Schule in Wien aber besonders gekennzeichnet hat, das sind die vielen und großen neuen Operationen, an die sich der Meister zuerst gewagt hat, so die Fortnahme des erkrankten Kehlkopfs, das Ausschneiden (Resektion) von erkrankten Stücken des Magens, die Ausschließung des kranken Magens von dem Geschäfte der Verdauung durch die Einnähung unterhalb gelegener Darmabschnitte in den Magen, die sogenannten Gastroenterostomien.

Auf dem internationalen Aerztekongreß in Berlin berichtete Billroth selbst über die Ergebnisse von 124 vom November 1878 bis Juni 1890 in seiner Klinik und Privatpraxis ausgeführten Resektionen am Magen und Darmkanal, Gastroenterostomien und Narbenlösungen wegen chronischer Krankheitsprozesse. Er schloß mit den Worten:

„Die Schwierigkeit einer frühen Diagnose und die Gefahr des operativen Eingriffs werden keine unheilbaren Gebrechen unserer Kunst bleiben. Ich zweifle nicht daran, daß bei fortgesetztem eifrigen Studium eine frühere Präcisierung der Diagnose möglich werden wird und daß wir die Gefahren dieser Operationen durch Vervollkommnung der Methoden und der Technik noch um ein Bedeutendes zu verringern imstande sein werden. Wenn wir dennoch vielleicht nicht so schnell, als wir wünschen, zur höchsten Höhe unserer Bestrebungen gelangen, so rufe ich Ihnen allen den Wahlspruch meines großen Meisters Bernhard von Langenbeck zu: ‚Nunquam retrorsum!‘“[1]

Keiner der Chirurgen unserer Zeit, nicht bloß der deutschen, sondern auch der englischen und französischen, ist so sehr wie Billroth Mittelpunkt einer chirurgischen Gelehrtenschule geworden. Zwei seiner ausgezeichnetsten Schüler bekleiden im Deutschen Reich das Amt eines ordentlichen Professors der Chirurgie und Direktors einer chirurgischen Klinik: Geheimer Hofrath Czerny in Heidelberg und Geheimer Medizinalrath Mikulicz in Breslau, ebensoviele lehren in gleicher Stelluttg in Oesterreich, Professor Gussenbauer in Prag und Professor Wölfler in Graz, in Belgien wirkt an der Universität Lüttich Winiwarter, in Serbien Giorgewicz, ganz abgesehen von den Wiener Docenten und Primärärzten, wie von Hacker, Gersuny, Steiner, von Eiselsberg u. a.

Nicht die Staatsinstitutionen, und seien sie für die Erzielung eines tüchtigen Nachwuchses akademischer Lehrer auch die besten, schaffen eine Gelehrtenschule, sondern die bedeutenden Männer bilden sie. Sache des Staates ist es daher, diese zu finden, wie Oesterreich für die medizinische Fakultät Wiens das in hervorragender Weise verstanden hat, indem es seine Van Swieten, Brücke, Brambilla, Billroth aus aller Herren Ländern zu gewinnen trachtete.

Welchen Eigenschaften Billroth seinen hervorragenden Einfluß auf die Jugend verdankt, ist nicht schwer zu sagen. Er gehört zu denjenigen Naturen, die alles, was an sie tritt, und jedes Neue, was ihnen ihre Wissenschaft bringt, sich schnell und ganz zu eigen machen, um es in besonderer und durchaus individueller Weise sofort weiter zu verarbeiten, auszubilden und zu entwickeln.

„Die besten Gedanken“, schreibt er einmal, „finde ich bei anderen Schriftstellern immer zwischen den Zeilen; was ich lese, interessiert mich fast nur deshalb, weil der Stoff selbst oder die Art, wie er behandelt ist, in mir neue Gedanken hervorbringt.“ So produziert er ohne weiteres aus dem, was er eben recipiert hat, und das schafft die Frische in der Lehre, die den Sechziger noch jugendlich erscheinen läßt in der Begeisterung für seine Lehrthätigkeit. Wenn er vorträgt, oder wenn er diskutiert, ist er voll Geist und Leben, und seine innerliche Erregung überträgt sich dann auf den Hörer und Schüler, befruchtet, erhebt und begeistert auch ihn.

Wer seine Schüler von Stufe zu Stufe, immer höher und zu immer größerer Vollkommenheit zu führen vermag, muß in schöpferischer Kraft ihnen vorangehen – er muß, wie Billroth, nicht nur das gesammte Wissen seines Faches beherrschen, sondern auch ein Meister im Können und Erfinden sein. Daß er das war und ist, bezeugt die Schule, die er geschaffen hat. Wie er es verstanden hat in seinen Vorlesungen sich in die Denkungsart und den jeweiligen Stand der Kenntnisse und des Wissens seiner Zuhörer zu versetzen, um, an das ihnen Bekannte anknüpfend, ihren Gedankenkreis zu erweitern, so ist auch von ihm auf seine Schüler die Art des Denkens, Empfindens, Handelns unmerklich, aber bleibend übergegangen.

Das Verhältniß zu seinen Schülern charakterisieren am bestem die Ansprachen, welche an seinem sechzigsten Geburtstag ihm zwei der bedeutendsten derselben, Gussenbauer und Czerny, widmeten.

„Sie haben“, heißt es dort, „in uns wissenschaftliches Denken, welches die Naturobjekte nur um ihrer selbst willen, ohne Rücksicht auf praktische Tendenzen betrachtet, geweckt und durch musterhaftes Beispiel gefördert. Streng in der Selbstkritik, haben Sie mit freundlichem Wohlwollen auch unsere schüchternsten Versuche, am großen Werke der modernen Chirurgie mitzuarbeiten, begleitet, rathend und mithelfend ergänzt, wo enger Blick und geringe Erfahrung nicht ausreichten, um durch Kleines das große Ganze zu bereichern. Sie haben uns Einblick gewährt, wenn Sie nach unermüdlichem Studium Ihre erstem Komzeptionen, dem erleuchteten Künstler gleich, in lebendigem Worte oder in unvergänglicher Schrift für die Wissenschaft formvollendet gestalteten. So haben Sie uns sehend und wissend gemacht, bevor Sie uns herangezogen zum schweren Beruf des praktischen Chirurgen.“

Ein Meister von Meistern, ein schöpferischer Forscher und ein außerordentlich produktiver Schriftsteller – so steht Billroth während der fünfundzwanzig Jahre seiner Wiener Lehrthätigkeit da. In den weitesten Kreisen der Gebildeten verbreitet sind namentlich zwei seiner Schriften, seine „Chirurgischen Briefe aus den Feldlazarethen in Weißenburg und Mannheim 1870“ und sein „Lehren und Lernen der medizinischen Wissenschaften an den Universitäten der deutschen Nation“ – eine kulturgeschichtliche Studie. Seine leichte, fließende und überaus anregende Art zu schreiben leuchtet aus ihnen auf jeder Seite hervor – ebenso wie die jugendliche Lebhaftigkeit im Empfinden und Denken des Verfassers. In die ideale hehre Stimmung der Julitage des unvergeßlichen Jahres 1870 wird jeder, der so glücklich gewesen ist, sie mitzufühlen, versetzt, so oft er die Vorrede zu den Briefen aufschlägt, die Billroth „bei dem Lichte jener Flammen mit blutiger Hand auf den Schlachtfeldern schrieb“ – als es ihn nicht länger in Wien duldete, sondern er fort bis in die vordersten Reihen derer eilte, die zur Wacht am Rhein in dessen Pfalz sich gesammelt hatten. Die den Eindrücken unmittelbar folgende Schilderung wird das Buch als einen werthvollen Beitrag zur Geschichte des großen deutschen Krieges Kind und Kindeskindern erhalten.

In einer ganz anderen Richtung werthvoll für jeden, welcher deutsche Universitätsverhältnisse beurtheilem und für die Förderung des medizinischen Unterrichts und der medizinischen Institute an ihnen thätig sein will, ist das zweite der oben erwähnten Bücher: über das Lehren und Lernen der medizinischen Wissenschaften. Hier ist zum ersten Male in großer Vollständigkeit an die Geschichte der Entwicklung unserer medizinischen Fakultäten die Darstellung der jetzigen deutschen Methoden des Lehrens geschlossen worden. Vorbildung, Prüfung und Lernfreiheit des Stndierenden sind ebenso kritisch dargestellt, wie die Zusammensetzung, Ergänzung und Lehrfreiheit der Professorenkollegien besprochen sind – zunächst an den Universitäten mit deutscher Zunge, dann aber auch, des Vergleiches wegen, in den

  1. Niemals zurück!
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_575.jpg&oldid=- (Version vom 30.11.2022)