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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Hans durchzuckten die Worte wie ein Feuerstrahl. Er preßte die kleine Hand und ließ sie nicht los. „Ich stieg, so hoch ich konnte,“ sagte er leise, das Auge fest auf sie gerichtet.

„So hoch Sie konnten, kein Zweifel, Herr Davis! Und ich als die Tochter meines Vaters zolle Ihnen dafür alle Anerkennung.“ Sie zog rasch die kleine Hand aus seiner Faust und hielt wieder das schützende Glas vor die Augen. „Wollen Sie die Güte haben und mir die guten Eigenschaften meines Täuflings auch erklären?“ setzte sie dann in leichtem Tone hinzu, als Hans stumm zurücktrat.

Sie näherte sich der Maschine, welche jetzt von der ganzen Gesellschaft umdrängt wurde.

Hans glaubte deutlich zu erkennen, daß trotz allem, was er gethan und errungen hatte, die Kluft zwischen Claire und ihm nicht kleiner geworden war, ja daß Claire gar nicht wünschte, sie zu überbrücken. Er wunderte sich nur, jetzt den Schmerz nicht zu empfinden, der in bangen Stunden bei dem Gedanken an diese Möglichkeit sein Herz bestürmt hatte. Ihn durchströmte vielmehr ein Kraftgefühl, wie er es ihr gegenüber noch nie empfunden. Nun galt’s, ihr die Ketten anzulegen, die er bis jetzt getragen. Sein männliches Bewußtsein flammte auf, die kindische sklavische Verehrung von einst mußte sterben, wenn sich aus ihrer Asche die echte, eines Mannes und eines Weibes würdige Liebe erheben sollte.

So folgte er der voranschreitenden Claire mit aller Ruhe und erklärte ihr die Konstruktion der Maschine so kühl und nüchtern, als hätte zwischen ihnen nie ein tieferes Gefühl gewaltet.

Herr Berry lud seine Gäste ein, auf dem Tender Platz zu nehmen und die Rundfahrt um die Fabrik mitzumachen.

Unter Vorantritt Claires stieg man hinauf, Berry selbst trat mit Hans auf die Maschine. Nur Otto und Frau Berry dankten für das Vergnügen und gingen in eifrigem Gespräch voraus, der Villa zu.

Claire war sehr in Anspruch genommen; man vergaß die Fahrt über dem Bemühen, der reizenden Dame den Hof zu machen. Für Hans hatte sie keinen Blick mehr.

Es war für den Kommerzienrath der glücklichste Tag seines Lebens, der Ehrentag seines industriellen Schaffens, der ihm zugleich seine geliebte, lang entbehrte Claire in blühendster Schönheit wiedergebracht hatte. O, wenn er den Tag festhalten könnte! Aber der rollt dahin, rastlos und unaufhaltsam gleich dieser Maschine, tausend andere folgen ihm nach, und dann – dann kommt ein anderer Tag, wo er nicht mehr sein wird, wo alles, was er geschaffen hat, verwaist stehen, verkauft, in totes Geld verwandelt werden wird. So mußte es gehen, wenn nicht etwa Claire dies Erbe antrat – aber dazu gehörte eben ein Mann, ein Mann der Arbeit. Sein Blick blieb unwillkürlich auf Hans haften und schweifte von da zu Claire hinüber, ein Gedanke, der wohl schon oft in ihm aufgestiegen war, den er jedoch intmer wieder zurückgedrängt hatte, gewann an Raum, und der Zweifel regte sich in ihm, ob er recht gethan habe, seine Tochter nach Paris zu senden. –

Nach beendeter Rundfahrt begaben sich die Herrschaften auf den Festplatz der Arbeiter, wo für Trank, Speise, Lustbarkeit aller Art gesorgt war. Berry mischte sich mitten unter die Leute und fühlte sich zu seinem Erstaunen wohl unter ihnen; es war ihm, als habe er etwas gut zu machen, als müsse er noch zur rechten Zeit des Schicksals drohende Rache für lang aufgehäuftes Unrecht versöhnen.

In der Villa harrte ein glänzendes Mahl der Gäste und Beamten der Fabrik. Hans Davis war von Berry dazu eingeladen. Der junge Mann mit den breiten Schultern, den muskulösen arbeitsharten Händen und dem intelligenten charaktervollen Gesicht erregte die allgemeinste Aufmerksamkeit. Vielleicht hatte man in ihm, dem diese außergewöhnliche Erfindung in so jugendlichem Alter, ohne höhere technische Bildung gelungen war, eine jener genialen Naturen vor sich, wie sie von Zeit zu Zeit urplötzlich aus dem Dunkel des Volksschoßes auftauchen und mit einer Art überirdischen Schauens allen mühsamen Fortschritt der Wissenschaft leicht und sicher überflügeln. Außerdem bot sich da eine ungefährliche Gelegenheit, seine liberale Gesinnung zu zeigen, seine Achtung vor dem sich emporschwingenden Arbeiter. Sogar der Minister und seine hohen Beamten wandten sich huldvoll an Hans.

Trotz dieser fortgesetzten Inanspruchnahme entging dem Gefeierten keine Bewegung, kein Blick Claires, die ihm schräg gegenüber saß und die einzige Dame war, welche nie ein Wort an ihn richtete. Er sah eine Absichtlichkeit darin, und obgleich ganz unerfahren in den wechselnden Stimmungen der weiblichen Natur, glaubte er doch eben hinter dieser scheinbaren Mißachtung seiner Person eine ständige Beschäftigung ihres Geistes mit ihm selbst zu erkennen; einige Streifblicke, die offenbar nicht dazu bestimmt waren, von ihm bemerkt zu werden, bestärkten ihn in seiner Annahme. Das Vorpostengefecht des künftigen unerbittlichen Kampfes hatte also begonnen. Claire schien sich alle Mühe zu geben, die Aufmerksamkeit der Tischrunde von Hans ab auf sich zu lenken; sie erzählte lebhaft und witzig von Paris, von ihren gesellschaftlichen Genüssen dort, schwärmte mit einer auffälligen Absichtlichkeit von dem feinen Geschmack in französischer Kunst und Litteratur, von der Strenge der Gesellschaft in der Auswahl ihres Verkehrs, spottete über deutsche Sentimentalität und Schwerfälligkeit. Aber so sehr sie sich bestrebte, die Unterhaltung an sich zu reißen – Hans war und blieb entschieden der stärkere Anziehungspunkt besonders für die übrigen Damen, die den „interessanten Erfinder“ immer wieder ins Gespräch zogen. Zum ersten Male in seinem Leben sah sich dieser in solcher Weise bevorzugt, und er hätte nicht ein junger Mann sein müssen, wenn ihn das nicht berauscht hätte: selbst Claire trat bei ihm für den Augenblick in den Hintergrund. Und er verstand es so gut, die Gesellschaft zu fesseln, „mit angeborener Unverschämtheit die kleine Bresche auszunützen, welche Papa unvorsichtigerweise ihm geöffnet“, wie sich Otto entrüstet ausdrückte. Claire sah sich nach aufgehobener Tafel geradezu auf ihren Bruder und einige ältere Herren angewiesen. Eine Zeitlang schaute sie mit einer Art inneren Grimmes zu. Wie konnte dieser Mensch, der ihr alles zu danken hatte, der ihr Geschöpf war, auf so beleidigende Weise sie völlig übersehen? Glaubte er am Ende, die Freundschaft ihres Vaters löse die Kette, die ihn an sie band? O, er sollte fühlen, daß die Fessel noch nicht gefallen war; gerade jetzt, wo er frei zu sein meinte, sollte er tiefer als je der alten Herrschaft sich beugen müssen! Sie wollte geduldig warten, bis er sich zu ihr wandte, dann aber alles aufbieten um ihn wieder unter ihren Einfluß zu zwingen.

Claire mußte sich lange gedulden; endlich trat Hans zu ihr. Sie kam seiner Anrede zuvor.

„Sie sind ja sehr galant geworden in den letzten Jahren, Herr Davis!“ sagte sie, mit dem Fächer nervös auf die Marmorplatte eines Tischchens klopfend. „Das machen wohl die Erfindungen?“

„Man hat in meiner Stellung wenig Gelegenheit, Galanterie zu lernen, Fräulein Claire!“

„Und wohl auch keine Zeit, kindische Erinnerungen zu bewahren? Aber natürlich, Sie haben etwas erreicht, werden mit Ihrem Talent und Ihrer Energie noch mehr erreichen, Sie brauchen keine Beschützerin mehr – – also fort mit den unbequemen Erinnerungen – nicht wahr?“

„Sie sind ungerecht, Fräulein Claire, und Sie wissen, daß Sie es sind – Sie wissen, daß ich nie vergessen werde, wie Sie für mein Leben alles wurden, der rettende Engel, der Geius, der mich zu dem begeisterte, was ich erreicht habe!“

Diese Worte, aus denen sein volles Herz sprach, verfehlten bei Claire ihre Wirkung nicht. Die ganze Vergangenheit trat in diesem Augenblick an sie heran, von jenem ersten Weihnachtsabend an bis zu dem stürmischen Abschied am Abend vor ihrer Abreise. Ihre letzten Worte damals waren es also gewesen, was ihn über seine Sphäre hinausgehoben, zum Erfinder gemacht hatte! Das schmeichelte ihrem weiblichen Stolze. Was waren dieser That gegenüber die faden Huldigungen in schöngedrechselten Worten, die sie in Paris genossen hatte, die sie wohl auch hier genießen würde? Schöpferisch zu wirken in einem groß angelegten Geiste, dessen anfeuernde Macht zu sein, war das nicht mehr als alle gesellschaftlichen Erfolge? So klangen ihre Worte nicht mehr spöttisch, sondern nur vorwurfsvoll, als sie erwiderte. „Ich glaube Ihnen, Hans! Aber wie können Sie am ersten Tage so rücksichtslos sein und mich derart vernachlässigen? O, bis ich dieses harte rauhe verletzende Wesen hier wieder gewohnt sein werde! Sie glauben nicht, wie mir das weh thut! Meine Nerven sind nun einmal nicht aus Stahl und Eisen wie die Ihrer ‚Claire‘.“

Hans war empört über sich selbst. Wie war es nur möglich, daß er sich so benommen, daß er Claire über den anderen nur eine Sekunde hatte vergessen können!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 583. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_583.jpg&oldid=- (Version vom 11.8.2022)