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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

fixieren, und unternahm es, Hermine und Franz als inniges Geschwisterpaar in einer etwas gefühlvollen Stellung, die Köpfe aneinandergelehnt, zu photographieren.

Für Geschwister im Alter von acht bis fünfzehn Jahren giebt es nun erfahrungsgemäß keine furchtbarere Zumuthung als die, sich zu umschlingen, und so stieß der Vater auf lebhaften Widerstand, als er die beiden „stellte“.

Es half ihnen aber nichts, sie mußten sich unter Androhung der schwersten Strafen widerwillig aneinanderschmiegen und eine ganze Weile so stehen, bis der Vater die Vorbereitungen beendet hatte. Wie aber zärtliche Empfindungen sich nicht im Augenblick erzwingen lassen, das zeigte sich auch hier.

Das aneinander geschmiegte Geschwisterpaar begann sich sofort gegenseitig zu beschuldigen: „Du zwickst mich!“ „Du kitzelst mich!“ Sie wagten sich dabei zwar nicht loszulassen, standen aber im entscheidenden Augenblick mit einem so wenig liebreizenden Gesichtsausdruck nebeneinander, daß sie mehr an die Laokoongruppe mit den Schlangen als an ein Genrebild aus dem Familienleben gemahnten – nur daß weder Laokoon noch die Schlangen so wüthende Grimassen schnitten.

Der Vater jagte sie denn auch beide zornentbrannt vom Orte seiner Kunstbestrebungen fort und erklärte, er würde seine Kinder nur noch zankend photographieren, da dies ihr ungezwungenster Zustand zu sein scheine.

Wirkte der Apparat, wie wir hier sahen, nicht immer heilsam auf den häuslichen Frieden, so mußte er andererseits sogar der geselligen Lüge dienen.

Es fand sich eines Abends eine bewährte, aber als tödlich langweilig bekannte Freundin des Hauses zum Thee ein, ein Ereigniß, das sich durchschnittlich drei-, viermal im Jahre wiederholte und bei dessen jedesmaligem Eintritt der Landgerichtsrath nur mühsam die Ausbrüche seines Ingrimms zu gastlicher Höflichkeit herabmilderte.

Auch heute fesselte ihn die angeregte Unterhaltung nicht besonders. Die brave Dame erzählte allerdings mit erbarmungsloser Ausführlichkeit die genaue Lebensgeschichte ihres „Graukarrierten“, das sie eines Kaffeefleckes halber, den ihm die „liebe Schröder“ beigebracht, zertrennt hatte, chemisch reinigen ließ, dann wendete und mit schwarzem Kaschmir zusammen aufarbeitete – „und jetzt ist es wieder wie neu!“ versicherte sie den Hausherrn, der mit steigender Empörung auf das Schlußkapitel des aufregenden Romans gewartet hatte.

Bei diesem Wendepunkt der Unterhaltung stand der Landgerichtsrath auf.

„Ich habe noch ein paar Platten zu entwickeln,“ sagte er mit beängstigender Höflichkeit und Sanftmuth. „Sie entschuldigen mich wohl auf eine halbe Stunde, Fräulein Pauline!“

Und ohne die vorwurfsvollen Blicke seiner Frau zu beachten, begab sich der Hausherr ins Nebenzimmer, verwandelte es durch Schließen der Fensterläden in eine improvisierte „Camera obscura“ und legte sich behaglich aufs Sofa, um ein bißchen zu schlafen.

Die Damen „plauderten“ indes in der vorhin angedeuteten Weise weiter, und der Landgerichtsrath, von der halb durch die Thür vernommenen Beschreibung eines „Hellblauen vom vorigen Jahre“ in Schlaf gewiegt, schnarchte bald so laut und nachdrücklich, daß seine Gattin in ihrer tödlichen Verlegenheit sich zu der Versicherung hinreißen ließ, „Platten entwickelten sich immer so hörbar!“

Ob Fräulein Pauline dieses Naturspiel infolge ihrer mangelhaften photographischen Kenntnisse für bare Münze nahm, muß dahingestellt bleiben. Die Jungen behaupteten jedenfalls, sie wäre sehr beleidigt gewesen und hätte, nach ihrem kühnen Vergleich, dagesessen wie ein „säuerliches Stearinlicht“.

Man sieht, daß der Apparat ein vielseitiges Möbel war! Kleine häusliche Störungen und Leiden blieben dem Besitzer freilich nach dem Gesetz „Wo viel Licht ist, ist starker Schatten“ nicht ganz erspart.

Einmal benutzten Franz und Anton die Abwesenheit des Vaters, um sich gegenseitig zu photographieren, und zwängten, als der Landgerichtsrath überraschend an der Thür klinkte, die Platte in solch angstvoller Hast in den Kasten, daß sie nur mit größter Kraftanstrengung vermittelst der Kneifzange wieder zu entfernen war. Außerdem rannte der oben erwähnte Hund „Darling“ den Kasten einmal prasselnd um. Der Papagei wollte auch nicht zurückbleiben, sondern knabberte das eine Bein des Stativs an, bei welcher Gelegenheit er fast zum Heile des ganzen Hauses vom Landgerichtsrath zertreten worden wäre, aber wie alle unerwünschten Besitzthümer unverletzt aus der drohenden Gefahr hervorging. Seine in der Seelenangst sofort hervorgestoßene Gewohnheitsfrage: „Bist Du mir gut?“ erfuhr allerdings seitens des Vaters die ingrimmige und niederschmetternde Erwiderung: „Nein, ich kann Dich nicht ausstehen!“ Aber es ist zu befürchten, daß dies auf den Papagei wenig Eindruck machte.

Ob es die gänzliche Inanspruchnahme der väterlichen Seele durch das Photographieren war, was in der nächsten Zeit eine betrübende Rückwirkung auf die pädagogischen Leistungen in der Familie ausübte, das mag dahingestellt bleiben! Sicher ist nur das eine, daß die Kinder des Hauses neuerdings eine wahrhaft greuliche Ungezogenheit an den Tag legten. Jedes betrieb dieses angenehme Geschäft nach seiner Anlage und Fertigkeit – aber jedes war unerträglich.

Zum Theil stand die Bethätigung dieses erfreulichen Umstandes auch mit dem Photographieren im unmittelbaren Zusammenhang.

Bei Hermine, der zwölfjährigen, äußerte sich das Bestreben, unausstehlich zu sein, in beständigen Thränenströmen, ohne welche Backfische erfahrungsmäßig so wenig gedeihen wie eine Pflanze ohne Sonnenlicht. Hermine fühlte sich ohne Aufhören in ihren heiligsten Rechten und Gefühlen gekränkt, mißverstanden und moralisch getreten und hatte es darin zu einer bemerkenswerthen Fertigkeit gebracht. So war es geschehen, daß sie und die Mutter neulich im Keller dem Vater bei seinen photographischen Versuchen hatten Hilfe leisten müssen. Beide standen und wiegten im Stockdunkeln die Platten in ihren Alaunbädern etwa dreiviertel Stunden lang sanft hin und her – ein Zeitvertreib, der jetzt keineswegs zu den Seltenheiten gehörte.

Da brach Hermine plötzlich in ein geräuschvolles Schluchzen aus.

„Was hast Du denn?“ rief die Mutter erschrocken, während der Vater in selbstsüchtiger Sorge die Hand vorhielt: „Daß Du mir nicht etwa auf meine Platten weinst!“

Eine genaue Nachfrage ergab, daß Hermine im Stockfinstern der Mutter genickt hatte, und der Umstand, daß diese das begreiflicherweise nicht gesehen und nicht erwidert hatte, wurde ihr von der gefühlvollen Tochter als Herzlosigkeit ausgelegt und schwer verübelt.

Der nachdrückliche Rath: „Binde Dir ein andermal eine Glocke um den Hals, wenn Du mir im Finstern nicken willst, da werde ich’s hören, und im übrigen sei nicht verdreht!“ wirkte übrigens so beruhigend wie ein niederschlagendes Pulver – ganz abgesehen von der Drohung, daß demnächst eine Momentaufnahme von der heulenden Hermine gemacht werden sollte.

Die Jungen leisteten auch das Ihrige in Ungezogenheit. Der Landgerichtsrath, dessen Mußestunden jetzt fast ausschließlich durch Photographieren ausgefüllt waren, konnte sich nicht um die Schularbeiten seiner Söhne kümmern und beautragte den vierzehnjährigen Franz, er solle Anton, der eben zehn Jahre alt war, im Latein unterweisen, wobei er ihm für jede ertheilte Stunde ein Zehnpfennigstück in Aussicht stellte.

Dieses glänzende Honorar entflammte in Franzens Brust einen wahrhaft verzehrenden Lehreifer, und er wollte, um sich schnell zu bereichern, dem armen Anton mindestens sechs Stunden des Tages geben, was von diesem mit begreiflicher Entrüstung aufgenommen und durch beständige Fluchtversuche, durch Verstecken und Zetergeschrei vereitelt wurde.

Da in den Stunden die dem Lehrer geziemende, sanfte Geduld von Franz auch nicht immer beobachtet wurde, so knatterte es gewöhnlich dabei von Ohrfeigen wie Kleingewehrfeuer, und das Ende des Unterrichts bestand meistentheils darin, daß Lehrer und Schüler, sich balgend und kratzend, unter dem Tisch lagen, was den Kleidern ebenso förderlich war wie dem Latein.

Das Sehnen nach einem besonders schweren Verbrechen, anläßlich dessen ein Exempel statuiert werden könnte, hatte sich daher schon unbewußt der Familie des Landgerichtsraths bemächtigt.

Unter solch gewitterschwülen Stimmungen kam wieder der Geburtstag des Vaters heran, der in der Höhe des Sommers lag und rücksichtsvollerweise auf einen Sonnabend fiel, weshalb ein Unternehmen mit den Kindern nicht ausgeschlossen schien.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 599. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_599.jpg&oldid=- (Version vom 11.4.2024)