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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Man plante denn auch einen Ausflug nach einer schön gelegenen Försterei, etwa anderthalb Stunden vor der Stadt, und ein wohl zubereitetes Abendbrot, als dessen krönendes Mittelstück eine süße Speise, mit Früchten belegt, prangte, wurde vom landgerichtlichen Kassenboten der Familie voraus in den Wald gefahren.

Diese süße Speise, von Anton fälschlich „die Torte“ benannt, hatte schon seit Tagen, während deren sie erst verheißen, dann zubereitet worden war, die fieberhafteste Aufregung bei den Kindern hervorgerufen.

Die erste Hälfte des Geburtstags war programmmäßig verlaufen, und Eltern und Kinder fanden sich in der vierten Nachmittagsstunde vor der Thür zusammen, zum Abwandern gerüstet. Der Apparat, als liebstes Familienmitglied, mußte natürlich mit, da der Hausherr schöne Punkte im Walde aufzunehmen beabsichtigte, und das Stativ war „mit dem Anstand, den es hatte“, sammt der süßen Speise und den Weinflaschen schon vorausgefahren.

Der schwere Kasten mit den Platten und sonstigem Zubehör wurde auf Antons Rücken geschnallt, der diese Inanspruchnahme seiner Gefälligkeit mit der ganzen Unausstehlichkeit begrüßte, deren zehnjährige Jungen in solchem Falle fähig sind.

Anton hatte sich schon von früh an in dem Zustand befunden, der auch artige Knaben bisweilen befällt – in einer grundlosen, aber sichtlichen Uebellaune, die ihn veranlaßte, jeden, der ihn ansah, je nach Stand und Alter, mit wüthenden Blicken zu bedenken oder ihm Püffe anzubieten, günstigen Falls sie auch auszutheilen.

Erst hatten die Eltern in der gehobenen Festesstimmung die Pöbelhaftigkeit ihres Jüngstgeborenen mit liebevoller Nachsicht übersehen. Als Anton aber, kaum daß der Kasten, den er tragen sollte, seinen Rücken berührte, unter sichtlichen Qualen zusammenbrechen wollte, hob sich die Hand des Vaters schon in vielversprechender Weise.

Die Mutter mischte sich ein.

„Bei der Hitze wird ihm der Kasten wirklich etwas schwer sein!“ meinte sie halblaut.

„Soll ich ihn etwa tragen, Elise?“ fragte der Vater scharf.

Die Mutter verstummte, denn da sie ihren „Darling“ mitnehmen wollte, durfte sie nichts gegen den Apparat sagen. Alle beglückwünschten sich im stillen, daß nicht noch der Papagei als angenehmer Zuwachs zu den geselligen Freuden sich dem Ausflug anschloß.

Die Familie setzte sich in Bewegung, ohne sehr rasch vorwärts zu kommen.

„Darling“, durch das seltene Vergnügen merklich aufgeregt, drückte seine Freude in sehr unbequemer Weise aus, indem er unaufhörlich an jedem einzelnen Theilnehmer des Spaziergangs in die Höhe sprang, heulte und bellte und dies nur unterbrach, wenn er irgend einem Huhne nachjagte; durch langgezogene, gellende Rufe: „Da–a–a–arling!“ mußte er dann zum Ergötzen der Vorübergehenden und zur schäumenden Wuth des Vaters wieder herbeigeholt und seinem ungesetzlichen Genuß entzogen werden. Anton, sonst durch Natur und Anlage sein berufener Wächter, konnte ihm heute wegen des schweren Apparats nicht nachjagen, wie jedermann begreifen mußte.

Anton fuhr inzwischen fort, sich unangenehm zu machen.

Er setzte sich alle fünf Schritt, anscheinend zum Tode erschöpft, an den Weg, obwohl der Kasten nicht ein Gramm schwerer war als der Tornister, den er täglich zur Schule trug, trabte dann wieder verdrossen weiter und wies jede Aufforderung, sich an der allgemeinen Unterhaltung zu betheiligen, ab. „Ich muß ja den alten Kasten tragen!“ murrte er, wobei ihm die Mutter durch vorwurfsvolles Mienenspiel und Seufzen recht gab.

Nach einiger Zeit schnallte er übrigens den Kasten los und machte unaufhörlich Versuche, ihn seinen Geschwistern hinterrücks aufzubürden – ja, als diese mißlangen und er vom Vater „nun gerade“ zum alleinigen Tragen der süßen Last verdammt wurde, blieb er mit „Darling“ zurück und befestigte den Kasten auf dessen Rücken. „Darling“, mit Recht empört über diese Zumuthung, rannte drei Schritt weit, um seinem Schicksal zu entgehen, und wälzte sich dann mit dem Kasten im Grase umher, ein Vorgang, der vom Vater bemerkt und mit einer leider etwas schwächlichen und daher ungenügenden Ohrfeige an Anton quittiert wurde. Außerdem verkündete das Familienoberhaupt dem unglückseligen Lastträger, daß er nicht mit den übrigen am Tische Kaffee trinken dürfe.

Die beiden anderen Kinder legten selbstverständlich eine herausfordernde, tugendhafte Artigkeit und Liebenswürdigkeit an den Tag, wie das Geschwister eines Verbrechers gerne thun – ein Verhalten, das den pharisäischen Wappenspruch: „Ich bin nicht so!“ deutlich an der Stirn trägt, und das die Abscheulichkeit des augenblicklich Ungezogenen noch schwärzer erscheinen läßt.

An der Försterei angelangt, ließ man sich fröhlich am Kaffeetisch nieder. Anton wurde sein Theil mit moralischer Verachtung an einen anderen Platz gestellt, und er durfte sich nicht an dem ungewohnten Genuß des Honigs betheiligen, so daß er sich mit einigem Rechte als der Elendeste aller Sterblichen erschien und die finstersten Pläne in seinem Innern wälzte.

Zu dem unbehaglichen Schatten, den es stets wirft, wenn ein Mitglied der Familie „in Ungnade“ ist, trat noch ein kleiner, betrübender Zwischenfall, wie er auf den wenigsten Familienlandpartien zu fehlen pflegt.

Der Förster, der unsere Freunde in seinem Besitzthum umherführte und dem Landgerichtsrath das Versprechen entlockte, seine Försterei auf photographischem Wege der Nachwelt zu überliefern, zeigte mit gerechtem Stolze seine Bienenstöcke.

Er ermuthigte die etwas schüchtern nähertretenden Fremden durch die heitere Zusicherung: „Kommen Sie nur ruhig dicht heran, meine Herrschaften – das sind italienische Bienen – die stechen nicht!“

Leider strafte im selben Augenblick ein gellendes Wehgeschrei Herminens den braven Bienenbesitzer Lügen – eines der nicht stechenden „Muster des Fleißes“ hatte seinen Stachel, ohne jede ästhetische Rücksichtnahme, in die harmlos emporguckende Stumpfnase der jungen Dame versenkt. Es blieb angesichts dieser schmerzlichen Thatsache nur die Annahme übrig, daß eine der italienischen Bienen einen Ausländer geheirathet habe, der die übeln Gewohnheiten seiner Landsleute noch nicht ganz abgelegt hatte.

Die Mutter, die solche Wuthblicke nach dem Förster schoß, als wenn nicht seine Biene, sondern er selber ihr Kind in die Nase gestochen hätte, ließ sich von der Försterin immer ein Hausmittel über das andere empfehlen. Der Tochter Thränen über ihr schwer geschädigtes Profil wurden endlich durch die Erlaubniß getrocknet, den Tisch zum Abendbrot mit decken helfen zu dürfen – ein Unternehmen, bei welchem Eile Noth that, da der Vater noch photographische Aufnahmen davon machen wollte, ehe die Sonne unterging.

Er beschäftigte sich mit Franz bereits mit den Vorbereitungen dazu, während Anton sich, noch immer mürrisch, in den Gebüschen umhertrieb und auf eigene Hand Zerstreuung suchte. Eine davon bestand darin, daß er mit „Darling“ „spielte“, eine Liebenswürdigkeit, über die der arme Hund von Zeit zu Zeit durch ein wüthendes Geheul quittierte, wenn Anton alle erziehliche Strenge, die an ihm selbst zu wenig ausgeübt wurde, an „Darling“ zur Anwendung brachte.

Der Abendtisch war bald gedeckt – zierliche Schüsseln mit Leckerbissen standen in reicher Abwechslung bereit, und die süße Speise lächelte als verlockendes Mittelstück durch die Waldesstille.

Der Vater rief jetzt alles zusammen, damit man ihm beim Aufstellen des Apparats behilflich sei, und die Aufmerksamkeit der ganzen Familie wurde naturgemäß durch diesen wichtigen Vorgang so sehr gefesselt, daß Antons Fehlen nicht weiter bemerkt wurde.

Eine hübsche Baumgruppe, der gedeckten Tafel zunächst, war als erstes Bild in Angriff genommen worden, und der Vater stieß die in solchen Augenblicken üblichen Verwünschungen gegen jeden aus, der dem Stativ zu nahe käme und die Situation verschöbe.

Die zweibeinigen Mitglieder der Familie umschlichen denn auch das Gerüst in scheuer Hochachtung – nur „Darling“, mit dem ihm eigenen Talent, sich nützlich zu machen, stürzte im letzten Augenblick, mit der ebenso erheiternden als erfolglosen Jagd auf seinen eigenen Schwanz beschäftigt, aus dem Dickicht und rannte mit fröhlicher Hast an den Apparat –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 600. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_600.jpg&oldid=- (Version vom 11.4.2024)