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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

neuen Thätigkeit mit rühmenswerthester Gewissenhaftigkeit und großem Erfolg und trachtete nie nach der Würde eines Direktors, die man ihm nur zu gern übertragen hätte; er wollte nur als Künstler eingreifen und sich in keiner Weise einengen lassen vom geschäftlichen Drum und Dran. In Moritz Hauptmann, der auf Mendelssohns Befürwortung seit kurzem als Thomaskantor angestellt worden, war für die theoretischen Zweige, Harmonielehre Kontrapunkt, ein Mann gefunden, der in der Musikwissenschaft mit dem epochemachenden Werke „Natur der Harmonik und Metrik“ unvergängliche Verdienste sich erworben und mit seinen gemüthvollen Motetten und anderen geistlichen wie weltlichen Chorsätzen sich auch als Komponist ausgezeichnet hat.

Mendelssohns vertrautester Haus- und Jugendfreund, Ferdinand David, der das Amt eines ersten Konzertmeisters am Theater- und Gewandhausorchester bekleidete, übernahm den Unterricht im höheren Violinspiel; bis zu seinem am 19. Juli 1873 plötzlich erfolgten Tode ging er auf in seinem pädagogischen Beruf; nahezu die ganze musikalische Welt hat er versorgt mit ausgezeichneten Violinisten, unter denen sich Virtuosen ersten Ranges wie Joachim, Wilhelmj etc. befinden.

C. F. Becker, Organist an der Nikolaikirche, war mit dem Orgelspiel, Ferdinand Böhme mit den Gesang- und Chorübungen betraut, Moritz Klengel mit Violinspiel zweiter Klasse; Louis Plaidy, dessen „Technische Studien“ für Klavier noch heute in ihrer Art unübertroffen sind, Ernst Ferdinand Wenzel, ein sehr eigenartiger, im Aeußern stark an Beethoven erinnernder Musiker von wissenschaftlicher Durchbildung, hatten den minder Vorgerückten Klavierunterricht zu erteilen, während Robert Schumann, obgleich er längst infolge einer Fingerverstümmelung auf die Lorbeeren des Virtuosen Verzicht geleistet hatte, sich an der Leitung der ersten Klavierklasse betheiligte; außerdem lag ihm ob die Durchsicht von Privatarbeiten in der Komposition. Wenn der große Tondichter auf diesem Felde der Wirksamkeit ebensowenig wie als Dirigent Lorbeeren zu pflücken vermochte, so kann das keinen überraschen der Schumanns Eigenart näher kennt. Nichtsdestoweniger darf Leipzigs Konservatorium stolz darauf sein, einen so glanzvollen Namen auf der Liste seines ersten Lehrpersonals zu finden. Frau Bünau-Grabau, einst eine sehr geschätzte Konzert- und Oratoriensängerin, fand Anstellung als Gesangslehrerin.

Das königliche Konservatorium der Musik zu Leipzig.

So beschaffen war das erste Lehrerkollegium des Leipziger Konservatoriums. Mit dem Eintritt des damaligen Universitätsmusikdirektors und späteren Professors und Thomaskantors Ernst Friedrich Richter war ihm vom zweiten Semester ab eine weitere Lehrkraft ersten Ranges geworden, die sich denn auch in der Folge so nachhaltig bewährte, daß jeder seiner Schüler dem unvergeßlichen, am 9. April 1879 verstorbenen Manne liebevolles und treues Gedächtniß weiht.

Mendelssohn, der im November 1843 nach Berlin übergesiedelt, 1845 aber bereits wieder nach Leipzig zurückgekehrt war, ließ nichts unversucht, der neuen, fröhlich gedeihenden Anstalt einen Klaviervirtuosen von Weltruf als Lehrer zuzuführen; sein Augenmerk hatte er stets gerichtet auf Ignaz Moscheles, der damals in England ungetheilten Beifall genoß und wie ein König das dortige Musikleben beherrschte.

Aus dem Briefwechsel zwischen Mendelssohn und Moscheles wissen wir Näheres über die in dieser Angelegenheit gepflogenen Unterhandlungen, und als diese zu einem günstigen Abschluß führten und Moscheles 1846 sein neues Amt antrat, da war niemand glücklicher als Mendelssohn. Moscheles übte namentlich auf die musikstudierenden Jünglinge Albions und zugleich auf alle diejenigen eine starke Anziehungskraft aus, die in ihm den vorzüglichsten Vertreter aus der guten alten Zeit der Klaviervirtuosität erblickten. Er blieb bis zu seinem am 10. März 1870 erfolgten Tode eine leuchtende Zierde des Konservatoriums, bis zur Stunde noch wirkt er fort in einer Reihe trefflicher, seiner Schule entstammenden Pianisten.

Nach anderer Richtung griff Dr. Franz Brendel durch als Nachfolger C. F. Beckers auf dem Lehrstuhl für Musikgeschichte. Aus seinen von 1846 bis 1868 gehaltenen Vorlesungen entwickelte sich eine „Geschichte der Musik“, die, indem sie dem modernen Kunstgeist in liebevollster Betrachtung Gerechtigkeit widerfahren ließ, eine zeitgemäße Würdigung der Werke eines Wagner, Liszt, Berlioz vorbereiten half.

Als Mendelssohn 1847 starb, hatte das junge Konservatorium bereits so feste Wurzeln im Musikleben Leipzigs gefaßt und nach innen und außen ein solches Ansehen sich erworben, daß seine Entwicklung in keine Gefahr gerieth. Die Nachfolger Ferdinand Hiller, N. W. Gade, Julius Rietz, Karl Reinecke hüteten aufs treulichste das Mendelssohnsche Erbe; am längsten, nach 1860 bis heute, trägt Professor Dr. Karl Reinecke die schweren Lasten, die ihm das Amt der künstlerischen Oberleitung auferlegt.

Das stetige Wachsthum der Zöglingszahl bezeugt am klarsten den nachhaltigen Aufschwung der Anstalt. Bei der für den 2. April 1843 angesetzten Aufnahmeprüfung konnten von 46 angemeldeten Schülern 22 als Zöglinge eintreten, darunter ein Engländer, ein Amerikaner, zwei Holländer; Ende Dezember belief sich die Schülerzahl bereits auf 63, und im Jahre 1850 war sie schon auf 321 gestiegen, 1860 auf 871, zehn Jahre später auf 1697, im Jahre 1880 auf 3276, 1888 bei der Uebersiedlung ins neue Gebäude auf 4870 und heute beträgt sie noch mehr. Seit die Lehrfächer Erweiterung erfuhren, wuchs die Anziehungskraft des Konservatoriums außerordentlich. Nicht nur Klavier, Orgel, Violine und Violoncello, sondern jedes Instrument, das im modernen Orchester Verwendung findet, wird von ausgezeichneten Fachkünstlern gelehrt. Letzterem Umstand hat das Konservatorinm den Gewinn eines Zöglingsorchesters zu danken, das seit mehreren Jahren eine hervorragende Leistungsfähigkeit erklommen und sich mit der Wiedergabe klassischer Meisterwerke aus älterer und neuerer Zeit allgemeine Bewunderung erspielt hat. Auch Solo- und Chorgesang erfreuen sich einer Pflege, die hinter den Ergebnissen der Instrumentalklasse nicht zurücksteht. Den rastlosen Bemühungen der Direktion ist es nun auch gelungen, eine Opernschule zu begründen die Neuschöpfung hat sich bewährt, und wenn es sich auch nicht darum handeln kann, den Schwerpunkt des Wirkens in der Pflege des dramatischen Gesanges zu suchen, so war durch diesen bedeutsamen Schritt doch die letzte Lücke im Lehrplan ausgefüllt.

Dem guten Geschick, innerhalb von nahezu fünf Jahrzehnten nur zwei technische Direktoren kennengelernt zu haben – Conrad Schleinitz von 1843 bis 13. Mai 1881, Dr. Otto Günther

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 604. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_604.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2022)