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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

erschien auf der Schwelle, die Lampe in der Hand. sie trug auf kaum ergrauendem Haar eine schwarze Spitzenhaube, und ihr längliches farbloses Gesicht zeigte die offenbarste Verwunderung.

„Meine Schwester? Einen Brief?“

Aus der Küche war jetzt auch das Dienstmädchen herzu gelaufen, ein frisches treuherziges Ding, das ebenfalls vor Erstaunen sprachlos geworden schien.

„Geben Sie her,“ sagte die Dame, die Stufen herunterkommend, „wo ist der Brief?“

„Thut mir leid, Frau Rath, muß eigenhändig in Empfang genommen werden. Ist das Fräulein nicht zu Hause?“

„Ei – ei – eigenhändig?“ stammette Frau Roettger.

„Jawohl, kann’s nicht anders machen.“

„Das Fräulein ist droben – Luischen, nimm die Lampe und führe den Mann hinauf!“

Der Bub’ mußte abermals dabei sein. Er sprang voran, immer gleich drei Stufen auf einmal nehmend, und polterte den Flur entlang, daß man glauben konnte, es wolle sich jemand vor Feuer retten. „Tante,“ hallte seine Stimme in dem Gange, „Tante Riekchen, es kommt ein Brief!“ Er riß die Thür auf zu ihrem Zimmer und rief noch einmal: „Ein Brief, Tante Riekchen! Du bekommst einen Brief!“

„Ich? Einen Brief?“ klang es zurück.

Es lag ebenfalls die höchste Verwunderung in der Stimme, aber diese Stimme war so sanft, so wohlklingend, daß der alte Briefträger unwillkürlich seinen bärbeißigen Ton milderte und höflich sagte: „Guten Abend, Fräulein, ’s ist etwas zum Unterschreiben.“

Darauf erhob sich eine Gestalt, die bis jetzt am Fenster gesessen hatte, und ging leisen Schrittes durch das Gemach; nun sprühte ein Streichholz auf, nun brannte ein Wachsstock in spiegelblanker Messingkapsel, und nun griff eine bleiche Frauenhand nach dem Schreiben.

„Bitte, wollen Sie hier Ihren Namen hersetzen.“

Die Schrift ward krakelfüßig, denn die Hand, die schrieb, bebte. „Kostet es etwas?“ fragte die Empfängerin des Briefes.

„Nein, Fräulein!“

„Nicht? Ach, warten Sie!“ Und die zitternde Hand legte ein Geldstück in die Rechte des Postboten.

„Guten Abend – danke gehorsamst!“

Draußen auf dem Vorsaal verklangen harte Schritte; hier innen stand Fräulein Friederike Trautmann, den Brief in der Hand, und wagte nicht, ihn zu öffnen. Der Junge ihr gegenüber hatte purpurrothe Wangen vor Ungeduld und Erregung.

„Tante, warum liest Du denn nicht?“ platzte er heraus.

Sie schrak zusammen. „Geh’ hinunter, Fritz!“ sprach sie und strich ihm über den lockigen Scheitel.

„Aber von wem ist er denn, Tante?“

„Ich weiß es nicht.“

„Er ist aus Italien, sieh doch die Marke!“

„Ja – – aber den Absender kenne ich nicht n geh’, mein Bub’! – Geh’!“ wiederholte sie noch einmal, als er zögerte.

Der hübsche Bursche in grauer Joppe verließ unmuthig das Zimmer. Sie folgte ihm bis zur Thüre, verriegelte diese und ließ sich dann am Tische nieder vor dem Wachsstock.

Sie war nicht mehr jung, die Mitte der Vierzig mochte sie wohl überschritten haben; aber das Gesicht zeigte noch immer die Spuren einstiger Schönheit. Der Gram hatte das blonde Haar gebleicht und die einst so glänzenden Augen matt gemacht; er hatte um den kleinen Mund tiefe Falten und um die Augen dunkle Ringe gezogen und dennoch flog in diesem Augenblick ein Schimmer von Jugend über das erregte Gesicht. „Aus Italien!“ flüsterte sie. „Nachricht von ihm! Von wem denn sonst?“

Sie öfffnete den Umschlag und las. Sie sah nicht mehr gut und mußte sich tief hinunterbeugen auf das Papier, und plötzlich senkte sich ihr Antlitz noch tiefer, und ein dumpfes Stöhnen klang durch das Zimmer. Jetzt sprang sie auf, so hastig, daß sie den Wachsstock zur Erde warf; er erlosch, und nun ward es ganz finster und ganz still. Nach einer langen Weile erst erklang ein Schluchzen aus dem Lehnstnhl am Fenster, das matt von dem Schneelicht erhellt war, ein heißes bitterliches Schluchzen, welches erst verstummte, als draußen ein harter Finger an die Thür pochte und die Stimme der Frau Rath erscholl. „Kommst Du noch nicht zu Tische, Friederike? Die Kartoffeln werden kalt!“

„Bitte, entschuldige mich,“ antwortete Riekchen Trautmann.

„Na, was hat’s denn gegeben? So sprich Dich doch aus! Man kommt ja um vor Angst!“ klang es draußen gereizt.

„Ja, später – ich komme noch hinunter, Minna.“

„Du bist eben ein Dickkopf! – Meinetwegen –“

Die Schritte der Frau Rath entfernten sich. Friederike Trautmann hatte aufgehÖrt zu weinen; sie saß, das Haupt in die Hand gestützt, und starrte durch das Fenster. Im gespenstischen Dämmerlicht lag der Garten, die beiden kahlen Nußbäume drunten am Zaune hoben sich schwarz von dem grauen Hintergrund ab; Fräulein Trautmann konnte jetzt sogar ganz deutlich die Eisschollen sehen, die auf dem Rheine dahintrieben. Wie furchtbar öde, wie tot war das alles! Hatte es wirklich einmal einen Frühling gegeben, einen Lenz, in dem die Welt duftete, grünte und blühte, in dem das Mondlicht auf dem Strome zitterte und die Nachtigallen schlugen? Einen Abend, an dem sie dort unter dem Nußbaum stand in weißem Kleide und mit klopfendem Herzen dem Nachen entgegenschaute, der ihn zu ihr trug – –? Ein kurzer Traum war es gewesen; der Reif war auch in diese Frühlingsnacht gefallen, so unbarmherzig und vernichtend, daß keine Blüthe je wieder aufsproßte.

Sie hatten es nicht gewollt, daß sie dem unbekannten Maler folgen sollte, der da gekommen war – Gott weiß, woher – um überall, wo er eine schöne Stelle fand, seinen Malschirm aufzuspannen. Der Vater hatte von brotlosen Künsten geredet, die Mutter von dem Leichtsinn solcher jungen hübschen Burschen, die zwar der Sammetrock wohl kleide, die jedoch ganz und gar, und so gewiß sie lebe, alle miteinander nichts taugten und nur da seien, die Mädchen und später ihre armen Frauen unglücklich zu machen. Die Schwester aber, die weit weniger schöne Schwester, die konnte es dem jungen Manne nicht verzeihen, daß er nur Augen für das „Riekchen“ hatte, daß er an dem Abend, wo sie im Mondschein von der Aue heimruderten, sein Riekchen aus dem Nachen, in dem sie, die Minna Trautmann, saß, herauslotste in ein kleines Boot, und daß sie trotz der Entfernung, in der dieses Boot von dem andern sich hielt, doch deutlich mit ihren scharfen Falkenaugen erkennen konnte, wie eng umschlungen die beiden auf der Bank saßen.

Sie war es gewesen, die es der Mutter verrieth, und ein böser Morgen war über dem Trautmannschen Hause emporgestiegen der für Riekchens Augen viele Thränen brachte. Am Abend war sie dann noch einmal hinausgegangen, um ihm Lebewohl zu sagen. Die Schwester hatte es bemerkt und ihr vom Lager aus zugerufen. „Bleib hier, das paßt sich nicht – verstehst?“

Riekchen war dennoch gegangen mit einem trotzigen: „So sag’s! – Das Abschiednehmen wenigstens darf mir keiner verwehren!“

Aber Minna hatte nichts verrathen. Der aufschluchzende Ton, welcher der Schwester Worte schloß, mochte sie eigen berührt haben, und Riekchen konnte unter dem alten Nußbaum ungestört die schmerzvollste, bitterste Stunde ihres Lebens auskosten.

Jetzt, in diesem Augenblicke, sah sie so deutlich sein bleiches Gesicht. „Hast recht gethan, Mädchen, daß Du nachgabst! Was willst Du auch mit dem armen Schlucker!“ Das waren die Worte gewesen, mit denen er sie empfing. Erst als sie in verzweifeltem Schluchzen an seinem Halse hing und immer, immer wieder stammelte. „Ich bleibe Dir treu, ich vergeß Dich nimmer, ich kann von Dir nicht lassen!“ – da war auch er weich geworden, und ihre Thränen flossen zusammen.

„Schreibst mir?“ fragte sie endlich.

„Wenn Du es willst, lieb Riekchen!“

„Es ist mein einzig Glück!“

Und nach einer ganzen Weile: „Heinrich, bleibst Du mir treu?“

„Ich – ich wohl – – aber Du?“

„O immer, immer!“ hatte sie geschluchzt.

„Weißt was, Riekchen – ich glaub’s nicht, Du bist zu fein und lieb dazu.“

„Heinrich, so wahr mir Gott helfe, ich seh’ keinen anderen an, ich wart’ auf Dich und würd’ ich alt und grau! Und wenn Du mal in Noth bist, gelt, Du sagst’s mir, und wenn Du die Sterne vom Himmel verlangst, ich hol’ sie Dir; und wenn ich wüßt’, es wär’ Dein Glück, so lief ich mit Dir heut abend, ohne Gram und Scham – aber –“

„Aber?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 614. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_614.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2020)