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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Na, aber allemal! Was ist da zu fragen? Sie kann ich immer anmelden, Fräulein Riekchen.“ Und ohne an die Stubenthür zu gehen, brüllte er mit wahrer Donnerstimme: „Frau Doktor, Trautmanns Riekchen ist da!“ Dann öffnete er eine Thür, und ein lachendes, noch recht schmuckes Frauenantlitz erschien in dem Rahmen.

„Immer herein, lieb Riekchen, mein Alter sieht schon wie eitel Sonnenschein aus!“ Und den Gast über die Schwelle ziehend, rief sie: „So! Und nun den Mantel herunter und die Kapuze. Das war ein gescheiter Gedanke! Nimmst doch ein Gläschen Wein? Alter, ich hole von dem Eberbacher, – und nun unterhaltet Euch gut derweil, ich seh’ es Euch ja an der Nase an, Ihr habt Heimlichkeiten! – Na, eifersüchtig bin ich nicht, obgleich sich’s schon noch verlohnte!“ rief sie zurück.

„Plappermühle!“ sagte lächelnd ein hochgewachsener ältlicher Herr, dem man den Arzt auf den ersten Blick ansah. Und er hatte die Hand seines Gastes ergriffen und nöthigte Riekchen neben sich auf das altmodische Sofa. „Nun? womit kann ich dienen? Giebt’s wieder ’mal Aerger mit Frau Minna? Oder rebelliert das Herz wieder bei Ihnen? Sie sehen recht blaß aus, Fräulein Riekchen – nicht soviel sitzen, gehen Sie doch mehr spazieren –“

„Ich komme nicht um meine Gesundheit, lieber Doktor, ich möcht’ einen anderen Rath, möcht’ Ihre Vermittlung bei Ihrem Bruder – – nicht wahr, er ist noch in Florenz?“

„Ja – wenigstens vor vier Wochen war er noch dort.“

„Ich hätt’ eine große Bitte an ihn.“

„Die er Ihnen sicher gern erfüllen wird.“

„Selbstverständlich sollen ihm keinerlei pekuniäre Verpflichtungen erwachsen, dafür sorge ich; ich würde ihn nur bitten, nach Rom zu reisen, dort eine Frau aufzusuchen, bei ihr einen Jungen abzuholen und diesen dann über die Alpen nach Basel zu geleiten, wo ich ihn in Empfang nehmen will.“

„Herrje! Das klingt ja ganz geheimnißvoll!“

„Es ist keinerlei Geheimniß dabei,“ sagte sie matt lächelnd. „Dieser Bub’ ist der Sohn eines Jugendfreundes, der vor kurzem starb. In einem Briefe, den er zwei Tage vor seinem Tode schrieb und den mir ein Kollege von ihm seinem Willen gemäß übermittelt hat, bittet er mich, ich solle mich seines Knaben annehmen und ihn nach Deutschland holen.“

„Wie heißt das Kind?“

Sie faßte sich an die Kehle, als würge sie etwas. „Friedrich Adami,“ kam es stockend heraus.

„Ach so – Verzeihung, Riekchen, ich kenne den Namen – ich – ich habe selbst einst –“

„Darunter gelitten“ wollte er sagen, verstummte aber und blickte still das edle, reine Gesicht des Mädchens an, das er einst heiß begehrt hatte und von dem er abgewiesen worden war um jenes Fremden willen.

„Sie wollen sich also des Kindes annehmen?“

„Ja, lieber Doktor!“

„Wie alt ist es denn?“

„Dreizehn Jahre, ungefähr so alt wie der Fritz Roettger.“

„Wissen Sie, was Sie sich damit aufbürden?“

„Vollkommen!“

„So will ich an Oskar schreiben. Er dürfte, so wie ich ihn kenne, mit Wonne bereit sein, eine Tour nach Rom zu machen. Ihre Börse wird er dabei nicht zurückweisen mögen oder können – weiß der liebe Himmel, Geld ist auch heute noch trotz seiner sechsunddreißig Jahre das wenigste bei ihm –“

„Und in Basel oder Zürich, oder wo er will, nehme ich ihm den Knaben ab.“

„Ich mein’, Riekchen, wenn er schon so weit ist, wird er sich auch gern ’mal wieder die alte Heimath anschauen und dazu soll ein Zuschuß von mir ihm verhelfen.“

„Das wär’ noch schöner! Sie wissen, lieber Doktor, ich bin all mein Lebtag nicht aus unserem Neste hinausgekommen. Aber hier ist nun die Adresse: Signora Adami, Piazza de’ Cappucini 16.“

„Danke!“ sagte der alte Herr und schrieb sich die Namen auf.

Die Frau Doktor trat mit Römern und Flasche herein, als Riekchen sich schon wieder zum Fortgehen anschickte. „Nichts da!“ rief sie, „erst wird getrunken! Soll ich umsonst in den Keller gestiegen sein?“ Und sie drängte der Eiligen ein Glas auf.

„Nun denn, Fräulein Riekchen, lassen Sie uns anstoßen auf alles Glück zu Ihrem menschenfreundlichen Vorhaben!“ sagte Doktor Kortum.

„Himmel, was ist denn los?“ rief die kleine niedliche Frau mit den schwarzen blitzenden Augen.

„Sie will ein Kind adoptieren.“

Die Frau Doktor schlug die Hände uber dem Kopfe zusammen. „Du mein!“ rief sie, „geh’, sei gescheit – ’s ist nicht wahr!“

„Doch, Frau! Mach’ doch nicht so thörichte Augen!“

„Aber die Verantwortlichkeit! Da nähme ich doch lieber ein Mopperl oder ein paar Kanar – – “

„Schweig’, Frau, sie thut ein gutes Werk! Aber – was wird Frau Minna sagen?“

„Eben will ich es ihr noch mittheilen,“ erwiderte Riekchen etwas verzagt.

„Was die Minna sagen wird?“ rief Frau Doktor. „Aussehen wird sie wie unser Kater, der Peter, wenn ich ihm die Milchschüssel wegnehme – – O du liebe Zeit, ich wär’ nicht so kühn, ihr das zu vermelden!“

„Es ist auch schwer,“ sagte leise das blasse Mädchen und ihre Augen blickten ganz starr. „Lebt wohl; sie wartet auf mich!“

Nach einer knappen Viertelstunde war sie wieder daheim und trat in die Wohnstube. Frau Minna aß eben einen Bratapfel, Fritz blätterte gelangweilt in seinem Briefmarkenalbum.

„Ach wie gut, daß Du kommst, Tante,“ rief er, „da können wir droben noch das Kapitel vom Lederstrumpf weiterlesen!“

Sie legte plötzlich die Hand auf seinen Kopf. „Fritz, sieh mich ’mal an – Du erhältst einen Kameraden ins Haus; ich bekomme Besuch, langen Besuch von einem Burschen in Deinem Alter – freust Du Dich?“

„Famos!“ schrie der Junge, „Du bist famos, Tante!“

„Was ist das für Unsinn?“ fragte Frau Minna.

„Adamis Sohn kommt zu mir ins Haus,“ klärte Riekchen sie auf, scheinbar ruhig, aber ihre Brust hob und senkte sich stürmisch.

„Auf Besuch?“

„Nein – vorläufig – für immer, Minna.“

Die Frau auf dem Sofa hatte sich verfärbt. „Das heißt – das heißt – daß Du –?“

„Daß ich für ihn sorgen werde!“

„Daß Du verrückt bist, heißt’s!“ rief Frau Minna. Und als die Schwester mit einem ruhigen „Gute Nacht!“ allen weiteren Erörterungen aus dem Wege ging, brach die Frau auf dem Sofa in ein nervöses Lachen aus. „So!“ rief sie und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, „so! Nun ist’s vollkommen, nun wische Dir den Mund, Du armer Schlucker, Du!“

„Aber – Mutter –“ wollte der Knabe beruhigen, doch sie stieß ihn zurück, flüchtete in ihr Schlafzimmer, und dort stöhnte sie, als sei ihr das schwerste Unglück widerfahren, indes der Junge sich die rosigsten Zukunftsbilder an der Seite seines Kameraden ausmalte.

Und Tante Riekchen saß droben und las noch einmal einen langen Brief, dessen zittrige Schriftzüge die Hand eines Schwerleidenden verriethen. – –

„Der Gedauke, daß Du meine Bitte erfüllen wirst, erleichtert mir das Sterben. Ich bitte mit keinerlei Recht, ich weiß es, aber ich weiß auch, daß Du mich nicht vergessen hast. Zu spät erfuhr ich es, daß Dein Vater mir die Unwahrheit schrieb, indem er mir mittheilte, daß Du glücklich seiest an der Seite eines anderen.

Es ist herb gesündigt worden an uns beiden, armes Kind! Doch wir sind wohl nicht die einzigen in der Welt, denen so geschehen ist, nicht die einzigen, die erfahren haben, was es heißt, entsagen zu müssen. – Ich habe einen Sohn, Friederike, ich liebe ihn unbeschreiblich; so lange ich lebe, ist er geborgen, aber – dann? – Seine Mutter – – ich darf keine Anklage schreiben – –. Nimm Dich des Kindes an, gieb ihm etwas Liebe, etwas Sonnenschein! Gott segne es Dir! Er soll Dich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 618. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_618.jpg&oldid=- (Version vom 2.10.2020)