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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Omnibusse und Pferdebahnwagen klingelten und rasselten, Equipagen sausten vorbei, Schutzleute zu Pferde erschienen und riefen mit harter Stimme ihre Anordnungen in die Welt hinein; die Menschen, die vorüberkamen, eilten – eilten – hatten sie denn alle so unendlich viel zu thun? Es ging ja kein einziger von ihnen, so schien es dem Landmann, sie stürzten, sie jagten alle!

Der fremde Herr stand ganz geduldig, eines der Bündel in der Hand, neben seinem Schützling und wartete.

„Sie waren wohl lange nicht hier in der Hauptstadt?“ fragte er nach einer Weile.

Wie aus einem Traume fuhr der Alte auf.

„Lange? Ach Gott, ich bin überhaupt mit meinem Fuß noch nie drin gewesen! Was ich kenn’, das sind bloß so kleine Städte, und auch in die komm’ ich fast nie!“

Ein Viererzug mit Kutscher und Diener und hellbrennenden Laternen sauste vorüber.

„Saß da der König drin oder ein Herzog?“ fragte der Bauer flüsternd – die Ehrfurcht benahm ihm fast die Sprache.

„Nichts davon! Irgend ein reicher Bankier – ein Kaufmann meine ich! Viele halten sich hier solche Wagen!“

„Was Sie sagen!“

Wieder eine kleine Stille.

„Wollen wir jetzt gehen?“ fragte endlich der Fremde.

„Ja, jawohl – bitt’ um Verzeihung! Das ist mir doch – ist mir doch alles wie ein Traum!“

Sie kreuzten, nicht ohne Hindernisse, den belebten Platz und bogen in eine breite Seitenstraße ein. Ein lauer Märzwind ging, am Himmel schimmerten matt die Sterne durch einen leichten Wolkenflor.

„Wen wollen Sie denn aufsuchen heute abend, wenn es erlaubt ist, danach zu fragen?“

„Ei freilich – ich wollt’ schon alles erzählen, bloß – mein Gered’ – mit dem feinen Deutsch geht das man so so!“

„Sprechen Sie doch wie daheim – ich bin aus Ihrer Gegend, ich werde Sie gewiß verstehen.“

Der Landmann griff mit der freien Hand an seine Mütze.

„Das nicht, nein, das geht gegen die Ehr’, und ich weiß auch, was sich schickt für ’nen kleinen Mann. Mit Geduld wird’s auch immer werden! Von unserer Gegend haben Sie gesagt – ja, da werden Sie denn auch zu wissen bekommen haben, daß wir erst seit ein paar Monaten die Eisenbahn bis zu unserer nächsten kleinen Stadt haben. Hat das lang’ gedauert – o je! Mit der Bahn, mein’ ich! Die Gutsherrschaften rund herum und der Bürgermeister und was so sonst noch die Herren von Einsicht sind . . . rein die Finger haben die sich abgeschrieben, bis daß wir die Bahn bekamen. Und das Bauen nu erst! Aber wie wir einmal soweit sind, da hält mich auch kein Mensch mehr, und: ‚Mutter,‘ sag’ ich, ‚Mutter, keiner kann wissen, wie lang’ daß er noch zu leben bekommt von unserem Herrgott – jetzt reis’ ich zum Lenchen, weil Du nicht kannst, weil Du den kranken Fuß hast!‘“

„Lenchen – das ist wohl Ihre Tochter?“ schob der Zuhörer dazwischen und dirigierte seinen Begleiter um eine Ecke.

„Einz’ge Tochter! Sozusagen einz’ges Kind, weil nämlich vier Kinder uns gestorben sind – waren auch zwei Jungens ’bei! Na, das Lenchen, das blieb aber, Magdalene eigentlich von Namen, wollte auch immer so gerufen sein, ist aber zu lang. Sehr klug und bildhübsch ist die Ihnen gewesen, nichts dabei von uns Bauersleut’, wie ’ne Advokatentochter, und darum auch mit dem kleinen Fräulein vom Gut erzogen. Bei ’ner richtigen, gelernten Gouvernante alles ausstudiert, Französisch und Natur und Geographie – alles, auch sogar Musik! Und die Freundinnen lauter Damen, – kamen aber nie zu uns! Und dann, wie’s Lenchen groß war, so achtzehn neunzehn, ja, dann schreibt uns einer, mir und der Mutter, er hätt’ sie kennengelernt und möcht’ sie heirathen, in die Stadt natürlich. Er war Buchhalter damals, aber nicht hier, nein, ganz weit weg. Ja - nu aber was thun? Wir, die Mutter und ich, kennen ihn nicht, haben ihn nie gesehen, wissen nicht, ob er was zu leben hat und sein sicheres Brot, und ob er gut von Gemüth ist ... aber das Lenchen, das wollt’ ihn, wollt’ ihn mit Gewalt! Und die Gutsherrschaften schreiben und behorchen sich über ihn und lesen uns vor. Ja, er ist soweit ordentlich, und achthundert Thaler Geld das Jahr – achthundert Thaler Geld! Also in Gottesnamen! Aber keine Hochzeit bei uns – wie sollt’s auch? Eine Stub’, zwar groß, aber man bloß eine, und ’ne Küche! Und weggereist mit Thränen, und geschrieben, zu Anfang oft – schöne Briefe, wunderschöne Briefe! Aber denn nu Kinderchens – und meine Alte hingesetzt und Wickelzeug gemacht und kleine feine Strümpf’ gestrickt! Und er, meinem Lenchen ihr Mann, aufgerückt – tüchtig, sehr tüchtig bei seinem Geschäft! Und nach sechs, sieben Jahren hierher in die große Stadt als Kassierer, Kassierer im großen feinen Bankgeschäft!“ Der Alte warf einen triumphierenden Blick auf seinen Begleiter. Während er von seinem Schwiegersohn sprach, kam ein respektvoller Ton in seine Stimme.

„Das ist Ihnen ein hoher Posten, so was kann so leicht keiner!“ fuhr er dann eifrig fort. „All das viele Geld in Händen, Tausende und Hunderttausende, und nichts für sich nehmen, nicht rühr’ an! Er hat jetzt ’n hohes Gehalt, ich weiß schon gar nicht mehr, wie hoch!“

„Da schickt Ihnen die Tochter gewiß manches Hübsche aus der großen Stadt?“ fragte der Fremde.

„Das weniger, das nu weniger – aber wie soll sie auch? Drei Kinderchen, und zwei tot – und prachtvoll begraben – die andern fein angezogen immer, und der Tochtermann kränklich, muß Wein trinken! Aber wie nu das Gered’ ging wegen der Eisenbahn, gleich hab’ ich gesagt, wenn das wird, fahr’ ich zum Lenchen, denn elf Jahr’ nicht gesehen, Herrgott, elf Jahr’! Und wir beide sind oft krank, Mutter und ich! Sie immer mit dem Fuß – ich Reißung im ganzen Körper, aber so ’ne Reißung, sag’ ich Ihnen! Kommt von nassen Wänden, sagt der Dokter, aber viel Miethe können wir nicht geben, drum bleiben wir schon in unserer Stube. Heut um drei Uhr aus dem Bett aufgestanden – gewaschen, angezogen, vier Stunden marschiert, weil’s keine Gelegenheit gab, zu fahren, und denn in die Eisenbahn und bis um halb sechs abends durchgefahren. Aber die Freud’ von meinem Lenchen, die Freud’!“

„Haben Sie ihr denn geschrieben, daß Sie kommen?“

Der Alte hüstelte verlegen.

„Seh’n Sie, wir sind von der alten Schul’, die Mutter und ich; mit unserem Geschreib’, da ist das man schlecht – eigentlich ist es gar nicht damit! Und schreibeu lassen, das wollten wir auch nicht . . . und wozu auch? Ueberraschen ist schöner – das ist Ihnen das Schönste! Na, aber bloß die Freud’ von der Lene!“

„Wann hatten Sie denn zuletzt Nachricht von ihr?“

„Ja, warten Sie ’mal – das kann ich gar nicht recht sagen – elf Jahr’ ist sie fort – und geschrieben – auf letzte Weihnachten denk’ ich, hat sie nicht geschrieben ... es kann schon ein Jahr sein, vielleicht noch ’n bißchen mehr!“

„Hm!“ Der freundliche Herr sah seinen Reisekameraden mit einem nachdenklichen Blick von der Seite an. „Was meinen Sie, wär’ es nicht besser, Sie übernachteten heute in einem Gasthaus – ich weiß ein anständiges und billiges hier in der Nähe – und suchten erst morgen Ihre Frau Tochter auf? Ich könnte ihr Botschaft schicken – –“

„Aber nein! Aber nein! Das ist ja denn gar nicht die richtige Freud’ für die Lene! Grad’, daß ich hingeh’ – und da bin ich – und denn nimmt sie mich auf, und acht Tage kann ich wegbleiben, die Mutter weiß es, daß ich mir die Stadt anseh’ – und die Kinder, die Kinder! Ich hab’ auch ’was mitgebracht für die Lene und die Kinder von daheim! In dem Pack, den Sie tragen, sind meine Sonntagskleider und die guten Stiefeln – aber im andern, in dem, den ich hab’, da ist Landbrot drin und Fladen! Mutter hat beinah’ die ganze Nacht durch gebacken, denn so ’was giebt’s nicht in großen Städten, und der Fladen ist schön aufgegangen! Ich sollt’ auch unterwegs essen davon, aber glauben Sie denn, ich hätt’ können einen Happen ’runterbringen? Soviel zu sehen und denn immer die Gedanken an die Freud’ von meiner Lene! Haben Sie auch Kinder?“

„Nein!“

„Ach Gott, schad’! Dann können Sie sich auch meine Freud’ nicht vorstellen! Haben wir noch weit?“

„Nicht mehr weit! Die nächste Straße schon! Welche Hausnummer ist es denn?“

„Nummer fünfundachtzig!“

„Schön! Ich bringe Sie bis dorthin – ich selbst habe etwas in Nummer achtzig zu thun, das Haus liegt dem Ihrigen schräg gegenüber!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 667. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_667.jpg&oldid=- (Version vom 13.2.2023)