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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Sei recht vergnügt heut’ abend!“ sagte der Alte und nickte still vor sich hin, als sei er sich des Doppelsinns seiner Worte recht wohl bewußt.

Im Rahmen der Thür drehte sie sich noch einmal um; das Licht der Hängelampe fiel hell auf die gebeugte Greisengestalt, auf das spärliche weiße Haar – sie hat die Erscheinung später oft, oft im Wachen und im Traum so vor sich gesehen!

„Vielleicht bist Du müde und ruhst hier noch aus!“ warf sie zaghaft hin, doch er schüttelte nur stumm den Kopf. Dann fiel die Thür hinter ihr ins Schloß, und sie war gegangen.


Der freundliche Herr, der sich unterwegs des alten Bauern angenommen hatte, trat aus dem Hause Nummer achtzig und sah nachdenklich zum Himmel auf, während er seinen Handschuh zuknöpfte. Die Sterne schimmertem nicht mehr, eine gleichmäßige Wolkenschicht überzog den Himmel, dann und wann fiel ein vereinzelter Regentropfen herab, und der Wind ging mit einem schwachen Klageton. Der Herr stand zögernd und überlegte, ob er zurückgehen und sich einen Schirm ausbitten sollte.

Da sah er quer über den Straßendamm eine gebückte Gestalt daherkommen, die ihm sofort bekannt erschien. War das nicht – wahrhaftig, ja, das war der Alte, mit dem er vor kaum einer halben Stunde hier in der Akazienallee angekommen war! Ohne zu zaudern, ging er ihm rasch entgegen.

„Nun, guter Freund, da sind wir ja wieder! Und so schnell? Haben Sie die Frau Tochter nicht daheim gefunden? Aber oben in ihrer Wohnung sind doch alle Fenster hell!“

Der alte Mann antwortete eine ganze Weile kein Wort, sondern ging nur still neben dem Fremden her.

„Lieber Herr,“ sagte er zuletzt, und die Stimme wollte ihm nicht so ganz gehorchen, „Sie sind so sehr gut zu mir gewesen, und ich bin ganz glücklich, daß Sie wieder da sind – der liebe Gott hat Sie geschickt, und dafür dank’ ich ihm! Nun hätt’ ich noch was zu bitten, es ist aber sehr was Großes, und so gut wie Sie auch sind – ich weiß doch nicht, ob Sie mir das auch noch thun werden!“

„Nur zu! Wenn ich irgend kann, thu’ ich es gewiß, und thu’ es auch gern!“

„Dank’ vielmal! Es ist schon spät, und Sie haben vielleicht zu thun – aber wenn Sie mich möchten zum Bahnhof bringen, zu demjenigen mein’ ich, der für unsere Gegend ist, und sagten mir, wann der nächste Zug nach Haus’ geht –“

„Wie?“ rief der andere im äußersten Erstaunen. „Sie haben eine solche Reise hinter sich, und es war Ihr Vorhaben acht Tage hier zu bleiben – und nun wollen Sie heute mit dem Nachtzug schon wieder fort? Das halten Sie ja gar nicht aus!“

„Ach ja, lieber Herr, das halt’ ich Ihnen schon aus! Ich hab’ mehr durchgemacht wie das, und was der Körper vom Menschen auszuhalten hat, das ist oft nicht sein Schlimmstes!“

„Ja – aber Ihre Frau Tochter – weiß die es denn auch, daß Sie gleich wieder gehen wollen, und was sagt sie dazu?“

Es kam keine Entgegnung. Der Alte wiegte nur langsam den Kopf hin und her und athmete tief und mühsam, beinahe klang es wie ein unterdrücktes Schluchzen. Endlich fragte er kleinlaut: „Wollen Sie mir die große Gefälligkeit anthun?“

„Aber natürlich, von Herzen gern. Nein, nein, keinen Dank – ich habe Zeit genug dazu. Kommt da nicht eine Droschke? Kutscher, he! Zum Ostbahnhof, und rasch! Ich glaube, der Zug, den Sie brauchen, geht in einer guten halben Stunde!“

Er half dem alten Mann die Bündel ia den Wagen legen, bezahlte den Kutscher schon jetzt und stieg nach seinem Schützling ein. Er fragte nicht weiter, er ahnte ungefähr den Zusammenhang der Dinge.

Schweigend fuhren sie dahin. Die Pferdehufe klapperten taktmäßig auf dem Asphalt; zu dem offenen Wagenfenster schlug eine feuchte dunstige Luft herein. – Jetzt verstärkte sich der Lärm, und in einiger Entfernung tauchten die Lichtermassen des Bahnhofsgebäudes vor ihnen auf.

Ein Stoßen, Drängen und Treiben im Wartesaal, an den Schaltern – ein Durcheinanderrennen, Rufen und Fragen. Mitten drin der alte Mann mit verwirrter eingeschüchterter Miene, mit feuchten gerötheten Augen. Er hatte geweint – es war kein Zweifel!

Sein freundlicher Beschützer hatte ihm bald einen möglichst guten Platz in einem Wagen dritter Klasse verschafft, drückte ihm die Hand und nahm freundlich seine unbeholfenen Dankesworte entgegen. Wie er in das gute alte Gesicht sah, sagte er leise und herzlich: „Mein guter Freund, es thut mir leid um Sie – aber wer kann wissen, wozu es gedient hat, daß Sie hier die große Freude, die Sie erhofften, nicht gefunden haben!“

Da zuckte es um Augen und Lippen des alten Mannes, und leise wiederholte er. „Meine Freud’, meine große Freud’!“

Dröhnend fällt Thür um Thür ins Schloß, langsam setzt sich der Zug in Bewegung.

Der Fremde sieht ihm nach, bis die rothen Lichter in der Ferne verschwinden, dann macht er sich auf den Heimweg. Er ist tief in Gedanken. Sie sind mit dem alten Mann beschäftigt, aber auch mit der seltsamen Fügung, die ihm diese Begegnung gerade jetzt, gerade heute vermittelt hat. Ist das nun blinder Zufall, ist es ein höherer Fingerzeig? In seiner weichen mitleidsvollen Stimmung ist er sehr, sehr geneigt, das letztere zu glauben. Während seiner langjährigen Juristenlaufbahn hat er häufig genug Gelegenheit gehabt, das wunderbare Ineinandergreifen menschlicher Geschicke, das Walten einer höheren Macht, die Unlösbares entwirrte, Dunkles erhellte, zu beobachten. So auch heute. Willdorf, Kassier Willdorf – den Namen kannte er ja, die „Sache“ war ihm übergeben worden, der „Fall“ war reif! Wie nun – wenn die Tochter sich ihrer kindlichen Pflichten erinnert, wenn sie den alten Vater gastlich aufgenommen, ihn für einige Tage in ihrem Hause beherbergt hätte? Viel, viel vernichtender noch als die Herzlosigkeit seines Kindes hätte den harmlosen Alten die Erkenntniß getroffen, daß der Schwiegersohn, auf dessen Geschicklichkeit und unantastbare Ehrlichkeit er so unsäglich stolz war, ein gemeiner Dieb und Betrüger, daß sein „Lenchen“ dabei die Mitwisserin, wahrscheinlich sogar die Helfershelferin war, daß aller Glanz und Reichthum, der ihn so verblüfft und geblendet, unrechtes Gut und die Anklage gegen den samt dem Vorstand der Bank des Unterschleifs verdächtigen Kassier Willdorf bereits aufgesetzt war! So aber – in sein abgelegenes Dorf verirrte sich kaum eine Zeitung, und wenn es geschah – das Lesen war seine Sache nicht, er würde wohl kein Wort erfahren. Die Tochter hatte lange Zeit nicht geschrieben, sie würde weiter schweigen, und nach ihrem heutigen Benehmen gegen den Vater würde dieser sicher keine Nachricht von ihr erwarten.

Staatsanwalt Martin, so hieß der freundliche Beschützer des alten Mannes, hatte während all dieser Betrachtungen sein Haus erreicht und öffnete die Thür mit einem Drücker. In seinem Arbeitszimmer brannte Licht, Schlafrock und Pantoffeln waren bereit, auf einem Seitentischchen brodelte Waser im Theekessel über einer bläulichen Flamme. Wein und kalte Küche war daneben aufgetragen.

Der Staatsanwalt machte sich’s behaglich, aber er that es mit einem Seufzer. Der alte Mann, der jetzt traurig und enttäuscht durch Nacht und Nebel nach seinem heimathlichen Dorf zurückfuhr, wollte ihm nicht aus dem Sinn. Das Essen mundete ihm nicht, der Wein war ihm herb auf der Zunge. Er fand wieder einmal, daß er für einen Juristen um fünfzig Prozent zuviel Gemüthsmensch sei. Endlich zog er am Glockenzug. Ein hagerer grauhaariger Mann, sein „Faktotum“, erschien.

„Die Akten ‚Willdorf‘ möchte ich haben. Im zweiten Fach rechts im Aktenschrank!“

„Sehr wohl!“

Er kannte den Fall genau – dennoch prüfte er noch einmal alles sorgfältig. Ihm war, als sehe ihm ein greises Haupt mit hellen schüchternen Kinderaugen über die Schulter, und diese Augen forschten ängstlich in seinem Gesicht, ob nicht ein mildernder Umstand – –

Nein! Weder Krankheit noch Mangel an Einkommen, weder schrankenloser Wohlthätigkeitssinn noch Unterstützung bedürftiger Freunde – die nackte Verschwendungssucht, das Bestreben, es anderen zuvorzuthun, eine Rolle in der Gesellschaft zu spielen! Da war nichts zu retten!

„Mein armer Alter! Das Schicksal, das Dir so grausam scheinen muß, hat es noch gnädig genug mit Dir gemeint! Eine herbe Enttäuschung hast Du erfahren, um vor einer noch herberen bewahrt zu bleiben. Wärst Du auf Deinem stillen Dorf geblieben, hättest Du Dich nie in die große Welt gewagt! Denn diese große Welt gönnt selten uns armen Menschenkindern eine echte Freude!“


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 671. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_671.jpg&oldid=- (Version vom 8.3.2023)